Brigitte Kronauer: Der Scheik von Aachen
In Brigitte Kronauers „Der Scheik von Aachen“ kommt es auf die Zwischentöne an.
Als Anitas neuer Freund Mario, ein Hobbybergsteiger, ausgerechnet Europas höchsten Berg, den Elbrus im Kaukasus, besteigen will, ist sie stolz wie Bolle, posaunt es gegenüber ihrer Tante Emmi regelrecht hinaus. Die aber hält mit ihrer Meinung über Mario nicht hinterm Berg. „Kannst du mir sagen“, fragt die Tante, „was das Geklettere und womöglich Abstürzen soll?“ „Geduld!“, mahnt Anita an, „Ich werde dahinterkommen, jedenfalls wenn ich es will.“
Brigitte Kronauers neuer Roman „Der Scheik von Aachen“ handelt von der Beziehung der 42-jährigen Anita zu ihrem neuen Freund, doch das Wenigste erzählt die Autorin als Handlung. Das ist man von Kronauer gewohnt, die bevorzugt ihre Figuren erzählen lässt. Die Heldin ihres neuen Romans führt häufig gar öffentliche Selbstgespräche und ist heilfroh, dass dies in Zeiten der Handys nicht mehr so auffällt. Meistens aber verabredet sie sich mit ihrer Tante in deren Haus, wo Emmi mit ihrer polnischen Haushaltskraft und Pflegerin, Frau Bartosz, wohnt. Dann wird bei diversen Likören oder Sekt drauflosgeredet, wobei man sagen muss: Meist redet Anita. Sie redet sich die Sehnsucht nach Mario von der Seele.
„Der Scheik von Aachen“ ist ein hochartifizieller Roman, sein Titel ein Zitat, das für eine Leerstelle in der Beziehung zwischen Tante und Nichte steht: Das Märchen „Der Scheik von Alessandria“ von Wilhelm Hauff hat deshalb große Bedeutung für Anita, weil sie als Neunjährige just in dem Augenblick die Geschichte vom Scheik las, der seinen Sohn verlor, als die Nachricht vom Tod ihres Vetters Wolfgang ihre Familie erreichte. Wolfgang war vom Baum und dabei in sein eigenes Pfadfindermesser gestürzt. Seitdem durfte sein Name bei Anwesenheit von Tante Emmi nicht mehr genannt werden. Was nur Anita weiß: Das Pfadfindermesser hatte sie gefunden und ihm geschenkt. All die Geschichten, die Anita ihrer Tante nun Woche für Woche erzählt, sind auch ein Erzählen auf ein Geständnis hin: dass sie, Anita, sich schuldig fühlt am Tod ihres Cousins.
Also halten wir kurz fest: Über Wolfgang darf nicht geredet werden, seitdem er tot ist. Über Mario wird hingegen ständig geredet, gerade weil er fast nie anwesend ist. Reden im Roman aber ist bei Brigitte Kronauer – seit sie schreibt – das Wichtigste überhaupt. Ob Anita nun den Konrad Brammertz trifft oder ihren neuen Arbeitgeber, Herrn Marzahn: Immer erzählen die Personen ihre Lebensentwürfe im Gespräch mit Anita, meist kommentiert durch diese. Steigt der Leser aber in Anitas Gedankengänge ein, kann es vorkommen, dass der Erzähler des Romans zu kommentieren beginnt, zumindest aber eine Ansage macht, wenn Anita aktuell weniger weiß als wir.
Kurios ist, dass man als Leser trotz dieser bevorzugten Informationspolitik oft erst in der Rückschau merkt, was Brigitte Kronauer uns da bietet: Das gesamte Personal ihres Romans hat mit Verlust zu kämpfen. Weil dies aber gern nebenbei erzählt oder der Schwerpunkt erst spät darauf gelenkt wird oder weil die Stimmung oft gar nicht die von Verlust ist, erliest man sich diese Erkenntnis erst im Laufe des Romans. Genau das will Kronauer, die mit dem Motiv des Verlustes noch viel mehr im Sinn hat als sein rein privates Durchdeklinieren: Als Anita mit Konrad Brammertz einen Ausflug an den Rand des Rheinischen Braunkohlereviers macht – Brammertz sagt nur: „Die Reise geht, wenn’s beliebt, zum Mond.“ – verschlägt es Anita beim Blick der aufgerissenen Erde von Europas größtem Tagebau die Sprache. Aber nur im ersten Augenblick. Dann: „Das schlägt einem aufs Haupt und dann waagerecht ins Gesicht.“ Hier pflügt der größte Schaufelradbagger der Welt die Erde um, hier wurde gerade erst wieder ein Dorf geräumt, weil es dem Bagger im Weg stand. Eine Klobürste, ein Marienbild und geleerte Flaschen einer Hausbar bilden ein Triptychon der Anklage und zeugen von Menschen, die vor wenigen Wochen noch hier gelebt haben.
Es sind die Verweise ins Politische und in die Kunst, die das Thema „Verlust“ in Kronauers neuem Roman übers rein Persönliche hinausheben und zu einem menschheitsgeschichtlichen machen.
Jürgen Wittner
Brigitte Kronauer Der Scheik von Aachen
Klett-Cotta, 2016, 399 S., 22,95 Euro