Colson Whitehead: Die Nickel Boys
Nach „Underground Railroad“ wollte Colson Whitehead einen leichteren Roman schreiben. Doch dann wurden in Florida anonyme Gräber entdeckt.
Wie derzeit kaum ein anderer Autor wechselt der 49-jährige Colson Whitehead mit jeder Veröffentlichung das Genre, um seine angestammten Themen zu verhandeln: Rassismus, Technologie und Popkultur. Auf die stark autobiografische Coming-of-Age-Studie „Der letzte Sommer auf Long Island“ und den dystopischen Zombieroman „Zone One“ folgte 2016 mit einer historischen Erzählung über den Kampf der Sklaven in den Südstaaten sein bisher größter Erfolg: „Underground Railroad“ gewann den Pulitzer Prize und wird derzeit von „Moonlight“-Regisseur Barry Jenkins als Serie für Amazon verfilmt. „In der Regel schreibe ich abwechselnd leichtere und schwerere Bücher“, erklärt Whitehead seine Arbeitsweise in einem Interview mit seinem deutschen Verlag. „Gerade ,Underground Railway’ hat von all meinen Büchern die geringste Anzahl von Witzen pro Seite.“ Dementsprechend saß Whitehead bereits an einem Kriminalroman, der in Harlem spielt – doch dann tauchten Zeitungsberichte auf, die seinen Pläne zunichte machten.
Drei Jahre nach Schließung der Arthur G. Dozier School for Boys in Mariana, Florida hatten Archälogiestudent*innen im Jahr 2014 auf dem Gelände der Besserungsanstalt für schwer erziehbare Jugendliche einen geheimen Friedhof mit mehr als 50 anonymen Gräbern entdeckt. Bis zum Jahr 1968 wurde in der Anstalt die Rassentrennung praktiziert: Auf dem südlichen Campus waren die weißen Jungen untergebracht, auf dem nördlichen die schwarzen. Doch obwohl ehemalige Insassen bereits seit vielen Jahren von grausamen Folterungen und Vergewaltigungen berichtet hatten, wurde erst nach der Schließung der Anstalt mit einer systematischen Aufarbeitung der Verbrechen begonnen. Colson Whitehead ließen die Berichte nicht mehr los: Er war auf einen Stoff gestoßen, der eine größere Dringlichkeit besaß als sein Kriminalroman. „Sobald Trump zum Präsidenten gewählt wurde, ergab es mehr Sinn für mich, an ,Die Nickel Boys’ zu arbeiten, um zu versuchen, die institutionellen Versagen unseres Landes zu begreifen.“
Bei Whitehead sind die Ereignisse fiktionalisiert, im Roman heißt die Anstalt Trevor Nickel School for Boys. Doch hat er den Fall der Dozier School sehr genau recherchiert: Zeitungsreportagen, die forensischen Untersuchungen der University of South Florida und vor allem die Memoiren und Berichte der Überlebenden sind in den Roman eingeflossen. Anders als bei „Underground Railroad“ fehlen die fantastischen Elemente, wenn er von dem 16-jährigen Elwood erzählt, der aufgrund juristischer Willkür Anfang der 60er-Jahre in der Erziehungsanstalt landet. Der extrem intelligente Junge ist von den Reden Martin Luther Kings inspiriert, er ergattert einen Studienplatz, doch als er beim Trampen zum College ohne sein Wissen in ein gestohlenes Auto steigt, wird er ins Nickel gesperrt.
Hier freundet er sich mit Turner an, der sich dem rassistischen und extrem gewalttätigen System an der Schule angepasst hat und versucht, möglichst unauffällig durchzukommen. Doch trotz schwerer Misshandlungen und Einzelhaft verliert Elwood seinen Idealismus nicht. Als sein Plan misslingt, bei einer Inspektion auf die Verbrechen im Nickel aufmerksam zu machen, müssen Elwood und Nickel fliehen … Colson Whitehead benötigt nur gut 200 Seiten, um die Schrecken fühlbar zu machen, die seine Protagonisten auch Jahrzehnte später noch verfolgen: Sein vor realistischer Kraft strotzender Roman brilliert mit einer authentischen Figurenzeichnung und virtuos verdichteter Sprache, die es nicht nötig hat, das benannte Grauen effekthascherisch auszuweiden. Wenn Whiteheads junger Protagonist Elwood die Essaysammlung „Was es heißt, ein Amerikaner zu sein“ von James Baldwin liest, ist das auch eine wichtige Referenzgröße für Whitehead selbst: Er führt den Kampf der prägendsten Stimme der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung effektiv fort.
Carsten Schrader
Colson Whitehead Die Nickel Boys
Hanser, 2019, 224 S., 23 Euro
Aus d. Engl. v. Henning Ahrens
HÖRBUCH bei Hörbuch Hamburg, gelesen v. Torben Kessler