Das große Tabu: Jan Costin Wagner im Interview
Die Reihe um Kimmo Joentaa hat Jan Costin Wagner vorerst beendet – um mit seinem neuen Roman „Sommer bei Nacht“ ein differenziertes Psychogramm zu zeichnen, das die Literatur bislang schuldig geblieben ist.
Jan, bist du nach „Sakari lernt durch Wände zu gehen“ noch mal ins Zweifeln gekommen, ob deine Kimmo-Joentaa-Reihe vorerst wirklich auserzählt ist?
Jan Costin Wagner: Wer weiß, vielleicht erzähle ich seine Geschichte in 20 Jahren weiter. Tatsächlich wusste ich aber nach dem letzten Satz, dass Kimmo an einem Punkt steht, an dem er glücklich ist und verweilen sollte. Zudem hat sich danach die Idee für den neuen Roman herauskristallisiert, die ganz und gar nicht im Kimmo-Universum angesiedelt ist und für die es sehr schlüssig war, ein ganz neues Ensemble zu etablieren.
War dir auch ein Ortswechsel wichtig? Nach so vielen Roman in Finnland spielt „Sommer bei Nacht“ ja jetzt in Wiesbaden.
Wagner: Irgendwie war für mich Finnland immer ein universeller Ort, und auch bei diesem Roman ist der spezifische Ort nicht so entscheidend. Initial hatte ich ein Bild vor Augen, in dem Menschen in einer grauen, bunten Fläche stehen und um Orientierung ringen. Es war ein urbaneres Setting, der sonnendurchflutete Vorort einer großen Stadt.
Thematisch geht es aber nach wie vor um Fragen des Erlebens von Trauer und des Weiterlebens.
Wagner: Diese Kernthematik wird bei mir wohl immer bleiben, aber natürlich geht es bei jedem Roman um die Betrachtung aus einer neuen Perspektive. Wenn ich hier über das Verschwinden von Kindern schreibe, ging es mir im übertragenen Sinne um den Verlust des Glaubens an die Möglichkeit von Unschuld. Weil es um grundlegende Fragen geht, fühlt sich der Hintergrund für mich eigentlich immer zeitlos an, aber in diesem Roman wollte ich auch das Jetzt abbilden und in Sprache bringen.
Im neuen Roman geht es um entführte Kinder und Pädophilie. Du etablierst zwei junge Ermittler, von denen insbesondere Ben Neven meiner Meinung nach eine Meisterleistung ist. Er ist Sympathieträger, eine Figur, in die man sich einfühlt – und gleichzeitig erfährt der Leser, dass er aus einer früheren Ermittlung kinderpornografisches Beweismaterial gestohlen hat, das er als Vorlage zum Onanieren nutzt.
Wagner: Es ging mir genau darum, dass das ein Makel ist, der sich dem Zugang bei dem üblichen Umgang mit dem Thema entzieht. Ich bin um diese Idee gekreist, und als ich gemerkt habe, wie heikel das ist, war klar, dass ich es unbedingt machen muss.
Kindesmissbrauch und Pädophilie sind das vielleicht letzte große Tabuthema, das vor allem in der Spannungsliteratur gern genutzt wird, um das absolute Böse darzustellen.
Wagner: Ich wollte eine Perspektive finden, mit der ich über diese zu einfachen Denkstrukturen hinwegkomme. Nur so kann es ja auch gelingen, präventiv zu wirken. Nur wenn der Blick klarer, schärfer und perspektivischer wird, kann etwas passieren, das weiterführt.
Bist du bei der Einfühlung in deine Figur auch vor Ben zurückgeschreckt? Der Leser erfährt, dass er sich vor den Bildern einen runterholt, nicht aber, ob mit diesem Trieb auch emotionale Bedürfnisse verbunden sind und wie er diese Neigung etwa zu seiner Frau, seiner Tochter oder auch seinem Beruf in Beziehung setzt.
Wagner: Anfangs schon, aber als ich mit dem Schreiben begonnen hatte, wurde es zu einem assoziativen Prozess. Es ging mir nicht darum, alles auszuerzählen, sondern ich wollte es als Teil einer fiktionalen Wahrhaftigkeit in den Raum stellen. Es ist der Teil, den niemand wahrhaben möchte, weil er nicht ins Gefüge passt. Trotzdem ist er aber da und sollte deshalb in den Blick genommen werden. Es ist sehr zurückgenommen erzählt – aber das habe ich nicht als Ausweichen wahrgenommen, sondern so wollte ich es. Ben steigt in dem Roman ja in die Reflexion und den inneren Monolog ein, aber es war mir klar, dass ich mit meinem Roman nicht darauf abziele, ihn zu erklären. Sondern im Gegenteil: Es ging erst mal darum, diese Wahrheit im Rahmen einer Fiktion zu etablieren – weil ich das so auch noch gar nicht kannte.
Werden noch Romane folgen, mit denen du Ben weiter ausleuchtest?
Wagner: In jedem Fall sind noch viele Fragen offen, die ich auch selbst gern beantworten möchte. Diese Figur fortzuerzählen scheint schwierig – und deswegen ist es etwas, was ich mir gut vorstellen kann.
Interview: Carsten Schrader
Jan Costin Wagner Sommer bei Nacht
Galiani Berlin, 2020, 320 S., 20 Euro
https://m.youtube.com/watch?v=58pKb2rcfyg