Wer stellt die Frage?
Keine Action, aber: In „Das Verhör in der Nacht“ liefern sich Sophie von Kessel und Charly Hübner einen verbalen Schlagabtausch um alles.
Gerade als sie zu ihren Eltern aufbrechen will, wird die Philosophieprofessorin Judith (Sophie von Kessel) an Heiligabend vor ihrem Hotel von der Polizei aufgegriffen, aber nicht verhaftet. Der Polizist Thomas (Charly Hübner) führt sie zurück aufs Zimmer und beginnt ein Gespräch – „Das Verhör in der Nacht“ – mit ihr. Es entpuppt sich als perfide durchgeplant. Dabei wechselt Thomas ständig den Ton, wird mal latent übergriffig, mal sanft, dann ganz plötzlich verbal aggressiv. Bald ist ein Muster auszumachen: Er provoziert bei Judith Gegenfragen, deren Beantwortung ein neues Gesprächsthema eröffnen. Was auch bald klar wird: Thomas hat nicht viel Zeit, er will ein Bombenattentat verhindern, das noch in der Weihnachtsnacht geplant ist.
„Das Verhört in der Nacht“ ist ein brillant inszeniertes verbales Ringen zweier Menschen auf Augenhöhe. Der Film wird innerhalt weniger Tage sowohl vom ZDF als auch von Arte ausgestrahlt und steht schon jetzt in der Mediathek beider Sender. Thomas – er ist Polizist beim Staatsschutz – gibt sich dabei als intellektuell Unterlegener freiwillig der Arroganz seiner Gesprächspartnerin hin. Der Schriftsteller Daniel Kehlmann hatte dieses Kammerspiel ursprünglich als Theaterstück geschrieben. „Heilig Abend“ wurde im Münchner Residenztheater gespielt, wo Sophie von Kessel bereits die Rolle der Judith spielte. Kehlmann schrieb auch das Drehbuch zum Film, den Regisseur Matti Geschonneck drehte. Geschonneck darf man inzwischen getrost als Spezialisten im Verfilmen literarischer Stoffe ansehen – er verfilmte auch Juli Zehs Roman „Unter Leuten“ (ebenfalls mit Charly Hübner) und „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ von Eugen Ruge.
Das Verhör in der Nacht: Psychokrieg
Was kann man an diesem Film und damit auch an der Vorlage kritisieren? Dass es sich um ein geplantes Bombenattentat einer linksterroristischen Vereinigung in der Nachfolge der RAF handelt. Die aber gibt es aktuell weit und breit – nicht! Doch stellen wir mal zurück, was da eigentlich verhandelt wird. Denn die Durchführung ist spannend und kurzweilig. Immer deutlicher wird, wie viel Thomas längst über Judith weiß. Das Privatgymnasium, das Studium in Cambridge, und jetzt „Flugblätter voller Grammatikfehler“. „Ich kenne alle Ihre Aufsätze“, sagt Thomas gespielt ermüdet. „So einen treuen Leser wie mich werden Sie nie wieder finden.“ Schließlich: „Ich habe sogar Ihre Habilitation gelesen. ,Das Konzept der revolutionären Gewalt bei Frantz Fanon.’“ Wie Thomas es gelingt, die ihm intellektuell überlegene Judith in ihrer Eitelkeit zu packen, damit sie sich ihm gegenüber – wenn auch voller Herablassung – öffnet, ist psychologisch hervorragend ausgearbeitet. Vor allem aber ist es die Schauspielkunst Charly Hübners, die hier ganz groß zur Geltung kommt – ganz anders als noch vor kurzem in der Sky-Horrorserie „Hausen“. Der Charme, das mal liebevolle, mal eiskalte Leuchten seiner Augen, sein mal spitzbübisches, mal verunsichertes Lächeln – Hübner gibt alles, was er zu bieten hat, um die Professorin zu knacken und an die Attentatspläne zu kommen.
Wozu aber die Geschichte einer linksterroristischen Vereinigung, die es heute überhaupt nicht gibt? Es ist die Kritik am Kapitalismus, die erfrischend von links durchdekliniert wird, ohne auch nur einmal zu langweilen. Es ist die Diskussion darüber, ob und ab wann Gewalt eine Lösung darstellen kann; und es ist die philosophische Frage danach, wer überhaupt die Frage stellt.
Jürgen Wittner