Dave Eggers’ Roman „Every“: Die Fortsetzung des dystopischen Weltbestsellers „The Circle“ ist da!
Mit „Every“ entwirft Dave Eggers einen digitalen Albtraum – und lässt durchblicken, warum wir trotzdem alles mitmachen werden, was Google, Facebook und Amazon von uns verlangen.
Willkommen in der nahen Zukunft und bei einer App namens „FictFix“. Die Macher dieser Anwendungssoftware haben sich nicht nur gefragt, warum bestimmte Bücher von vielen Lesenden vorzeitig aus der Hand gelegt werden, sondern auch, an welchen konkreten Stellen der Abbruch erfolgt.
Da häufig unsympathische Figuren den Ausschlag geben, werden die entsprechenden Bücher einfach umgeschrieben, und die unbeliebten Charaktere verwandeln sich in die nettesten Menschen der Welt. Zudem wurde herausgefunden, dass Lesende pro Buch höchstens drei Ideen oder Themen verkraften: Bücher, in denen es vor Ideen nur so wimmelt, werden meist depräferiert oder zumindest quergelesen.
Apropos Querlesen: Das ist auch besonders häufig bei Liebesromanen der Fall, wo die Lesenden den Text nur oberflächlich scannen, um die anschaulich romantischen Textstellen aufzuspüren. Warum sollte also nicht eine KI diese Passagen eines Buches schreiben, die sowieso keiner liest?
Besonders beliebte Szenen, dramatische Höhepunkte und Teile mit einer gewissen poetischen Sprache könnten ja weiterhin von Menschen geschrieben werden. Und auch zur Seitenzahl wurden konkrete Daten ermittelt: „Kein Buch sollte mehr als 500 Seiten haben, und wenn doch, dann liegt die absolute Obergrenze, die die Leute noch hinnehmen, bei 579.“
Was die Seitenzahl angeht hält sich Dave Eggers mit „Every“ und exakt 579 Seiten immerhin an die absolute Obergrenze, doch mit der Anzahl der verhandelten Ideen fällt der 51-jährige US-Autor bei „TellTale“ natürlich in Ungnade.
Auf „The Circle“, seine 2013 veröffentlichte Dystopie einer nahen digitalen Zukunft, die von James Ponsoldt auch mit Emma Watson und Tom Hanks verfilmt wurde, lässt er nun die Fortsetzung „Every“ folgen. The Circle war damals Google nachempfunden, die größte Suchmaschine gepaart mit dem größten Social-Media-Anbieter der Welt.
Nun hat eine Fusion mit dem erfolgreichsten Onlineversandhaus das gefährlichste und leider eben auch beliebteste Monopol aller Zeiten hervorgebracht: Every. Mae Holland, die Hauptfigur aus „The Circle“ ist jetzt die Chefin dieses Megakonzerns.
Perfektes Timing von Dave Eggers: Parallel zur Veröffentlichung von „Every“ fällt Facebook für mehrere Stunden aus
Das Timing von Dave Eggers „Every“ ist nahezu perfekt: Fast parallel zur Veröffentlichung fallen Facebook, WhatsApp und Instagram für mehrere Stunden aus, und erst wenige Tage zuvor war die Whistleblowerin Frances Haugen mit ihren Enthüllungen über die Firmenpraxis von Facebook an die Öffentlichkeit gegangen.
Seine Romanheldin heißt nun Delaney Wells und sympathisiert mit den Digitalverweigerin, die sich Trogs nennen. Trogs haben sich komplett aus den digitalen Netzwerken zurückgezogen und bewegen sich innerhalb der Stadt fast ausschließlich an Orten, an denen es keine Kameras gibt und sie vor der Dauerüberwachung sicher sind.
Delaney bewirbt sich bei Every, nach einiger Zeit zieht sie sogar auf das streng bewachte und von der Außenwelt abgeschirmte Firmengelände und verfolgt ihren subversiven Plan: Sie will die Firma von innen heraus zerschlagen.
Niemand rebelliert, obwohl Freiheitsrechte eingeschränkt werden
Delaney bringt neue Ideen bei Every ein. Ihr Plan ist es, immer übergriffigere Vorschläge bei der Produktentwicklung zu machen, so dass die Belegschaft oder zumindest die Nutzer:innen bei der zunehmenden Einschränkung von Persönlichkeits- und Freiheitsrechten rebellieren.
Die App „HappyNow“ bestimmt, ob ein User glücklich ist und gleicht das Ergebnis mit dem vorausgegangenen Kaufverhalten ab. Mit „Did I“ kann bestimmt werden, ob bei einer koitalen Begegnung ein Orgasmus erreicht wurde, und natürlich lässt sich die Intensität des Höhepunkts auch mit denen von Freunden, Angehörigen und Jugendlieben vergleichen.
„Takes a Village“ ermöglicht es dem User, Kinder bei ihren Missetaten zu filmen und zu taggen und diesen Beweis dann mit dem Trackingchip zu verbinden, den die meisten Kinder am Fußknöchel tragen.
Iris-Scans überführen Gaffer
Heikler wird es, als Iris-Scans eingesetzt werden. Es kommt zu einer Selbstmordwelle, da viele Männer des Gaffens überführt werden und darüber auch die Familie und der Arbeitgeber des Täters informiert werden.
Auch ein Präsidentschaftskandidat kommt so zu Fall, der sich als moralisch integer inszeniert, durch die App jedoch als Lüstling enttarnt wird. Bald wird auch diskutiert, ob es zur Vereitelung von Missbrauch okay geht, wenn auch die privaten Räume abgehört werden. Doch egal, wie weit Delaney mit ihren Vorschlägen geht – die Nutzer:innen jubeln und fügen sich begeistert in all die Einschränkungen, die der digitale Fortschritt mit sich bringt.
In Dave Eggers’ „Every“ steckt auch Hoffnung
Mit unvorhergesehenen Wendungen und entlarvenden Dialogen hält Eggers die Spannung auch über 579 Seiten. Wie schon bei „The Circle“ ist seine Dystopie mitunter nur schwer zu ertragen, da diese Zukunftsvision oftmals kaum noch von unserer Gegenwart zu unterscheiden ist. Doch Eggers arbeitet mit Humor und slapstickartiger Überzeichnung, wenn er die technologischen Zumutungen immer weiter steigert.
Und es steckt auch Hoffnung in „Every“: Ganz am Ende können wir nicht sein, wenn das Ende des Romans wohl doch noch einen dritten Teil verspricht.