„Sekunden der Gnade“ von Dennis Lehane
Mit einem Mord wirbelt Dennis Lehane in „Sekunden der Gnade“ das Schwarz-Weiß-Denken im Boston des Jahres 1974 durcheinander.
Mit dem eindringlichen Roman „Sekunden der Gnade“ zeigt Dennis Lehane wieder seine große Erzählkunst
„Sekunden der Gnade“ von Dennis Lehane ist unser Krimitipp der Woche.
Eine Mutter mit Wut im Bauch und einem Teppichmesser in der Hand sollte niemals unterschätzt werden. Mary Pat Fennessy sucht ihre 17-jährige Tochter Jules, die eines Abends nicht nach Hause kommt. Sie ahnt das Schlimmste, doch hier in South Boston mit seiner prekären weißen Bevölkerung vertraut man in solchen Situationen nicht mehr auf die Hilfe der Cops. Mary Pat, die nach den Ehemännern und ihrem Sohn nicht auch noch den letzten Halt im Leben verlieren will, ist bei ihrer verzweifelten Suche zu allem entschlossen und geht nicht gerade zimperlich vor.
Sie knöpft sich die halbstarken Kifferjungs der Butler-Crew vor, mit der Jules vermutlich abgehangen hat. Zunächst schlitzt sie an deren Weichteilen rum oder setzt dann sogar Heroin als Wahrheitsdroge ein, um verlässliche Hinweise zu bekommen. In der Nacht von Jules’ Verschwinden ist nämlich auch etwas geschehen, von dem niemand gerne spricht: Vier weiße Kids jagen den schwarzen Jugendlichen Auggie, der zur falschen Zeit im falschen Viertel auftaucht. An einer Bahnhaltestelle stürzt er vor einen einfahrenden Zug und stirbt. Ein tragischer Unfall – oder gar Mord? War etwa Jules daran beteiligt?
Dennis Lehane erzählt die intensive Geschichte vor dem historischen Hintergrund, dass es 1974 einen richterlichen Beschluss gegeben hat, der zur Überwindung der Rassentrennung an den Schulen Bostons führen sollte: Busse bringen einen Prozentsatz von schwarzen Schüler:innen aus dem Stadtteil Roxbury in die Schulen nach South Boston. Umgekehrt sollen Weiße nach Roxbury, dem vorwiegend von Schwarzen bewohnten Viertel. Auch Jules war unter den Ausgelosten und durfte nicht mehr ihre bisherige Highschool besuchen.
Die irisch-stammige Arbeiterklasse setzt schwarze Jugendliche mit kriminellen Drogendealern gleich
Diese „Busing“-Maßnahme entfacht vehemente Gegenwehr in der von Armut gezeichneten irisch-stämmigen Arbeiterklasse, die schwarze Jugendliche mit kriminellen Drogendealern gleichsetzt. Auf Protestkundgebungen entlädt sich der Frust, und bald werden die ersten Ziegelsteine auf Busse geworfen. Die 42-jährige Mary Pat steht exemplarisch für die Abhängten in dem verwahrlosten Wohnviertel, das von Marty Butlers Gangsterbande kontrolliert wird. Selbst mit zwei Jobs kann sie die Gasrechnung nicht bezahlen und soll jetzt hinnehmen, dass ihr auch noch die einzige Tochter genommen wird?
Ist es der letzte Roman von Dennis Lehane?
Neben ihrer Sicht gibt es auch noch die von Detective Michael „Bobby“ Coyne, mit der Dennis Lehane die Suche nach Jules in der angespannten Lage verfolgt. Bobby hat ein Kriegstrauma und ein Drogenproblem aus Vietnam mitgebracht. Seinen Kampf gegen sich selbst und für die Gerechtigkeit führt er nun bei Fällen wie dem von Jules. Hartnäckig versucht er die Geschehnisse jener verhängnisvollen Nacht aufzudecken, die durch ein entscheidendes Detail auch Jules anders dastehen lassen. Wenn nicht Jules, kann Bobby dann noch Mary Pat retten? Dennis Lehane zeigt mit diesem eindringlichen Roman wieder seine große Erzählkunst. Ein letztes Mal? Es hält sich das Gerücht, Lehane werde fortan nur noch Drehbücher schreiben.
Mit „Sekunden der Gnade“ hat es Dennis Lehane auf unsere Liste der besten Krimis im September 2023 geschafft.