Die besten Bücher 2023: Empfehlungen für Mai
Auch fürs Buchregal ein Wonnemonat: Die besten Bücher im Mai 2023 mit A. L. Kennedy, Katrin Seddig und Karin Smirnoff
Mit Ironie und ganz viel Liebe der bitteren Realität trotzen? A. L. Kennedy nutzt es aus, dass wir diesem Angebot nicht widerstehen können. „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“ ist das Meisterwerk der schottischen Autorin – aber reicht das auch, um unsere Liste der besten Bücher im Mai 2023 anzuführen? Konkurrenz bekommt sie von Karin Smirnoff, die nach „Mein Bruder“ nun ihr zweites Buch vorlegt: „Wunderkind“ ist ein Roman über Missbrauch, der schockiert ohne zu skandalieren. Oder schafft es Katrin Seddig an die Spitze unserer Liste der besten Bücher im Mai 2023? Mit „Nadine“ wagt sie sich erneut auf das Schlachtfeld dysfunktionaler Familien und baut ihren sechsten Roman so spannend wie einen Thriller.
Auch Priya Guns ist einer der vorderen Plätze auf unserer Liste der besten Bücher im Mai 2023 zuzutrauen. In „Dein Taxi ist da“ verhandelt sie ein universelles Problem: Klassismus und Rassismus, verwoben und unsichtbar gemacht hinter einer dünnen Schicht Liberalismus. Spannend ist auch das Drehbuch zum Film „Sisi & Ich“, das Regisseurin Frauke Finsterwalder mit ihrem Mann Christian Kracht verfasst hat. Oder führt gar ein Debüt unsere Liste der besten Bücher im Mai 2023 an? Paul Brodowsky, Ayanna Lloyd Banwo und Caroline Wahl können sich da durchaus berechtigte Hoffnungen machen.
Die besten Bücher im Mai 2023
9. Caroline Wahl: 22 Bahnen
Während ihre Freund:innen die Kleinstadt nach dem Abi verlassen haben, steckt Tilda noch immer dort fest, arbeitet im Supermarkt, geht zur Uni und kümmert sich um ihre kleine Schwester Ida. Mit ihrem durchgetakteten Alltag versucht Tilda, das Leben bei ihrer alkoholkranken Mutter etwas berechenbarer zu machen. Nur die täglichen 22 Bahnen im Schwimmbad gehören ihr ganz allein. Als die ehrgeizige Mathe-Studentin ein Angebot für eine Promotion in Berlin erhält, wagt sie es erstmals, sich aus der Kleinstadt und von der Verantwortung wegzuträumen.
Doch die Geister der Vergangenheit ruhen nicht: Plötzlich trifft sie Viktor wieder, den Bruder eines verstorbenen Freundes. Der Gedanke an ihn lässt Tilda nicht mehr los, und der Zustand ihrer Mutter bereitet ihr Sorgen. Kann Tilda sie zurücklassen? Der Debütroman von Caroline Wahl ist eine nahbare und warmherzig erzählte Geschichte über Liebe und Familie.
Dumont, 2023, 208 S., 22 Euro
8. Frauke Finsterwalder & Christian Kracht: Sisi & Ich
Die legendäre österreichische Kaiserin Elisabeth wird infolge eines jüngeren Hypes in etlichen Serien, Filmen und Büchern reanimiert. Der neueste Ableger ist der Kinofilm „Sisi & Ich“ von Frauke Finsterwalder, die sich dem Sisi-Mythos auf unbefangene, spielerische Weise annähert. Erzählt wird die Handlung aus Irmas Perspektive – eine fiktive Zofe, die sich zu allem Unglück unsterblich in ihre Herrin verliebt. Das schelmische Drehbuch hat die Regisseurin gemeinsam mit ihrem Mann geschrieben, dem gefeierten Schriftsteller Christian Kracht („Eurotrash“).
Warum aber ausgerechnet ebendieses Drehbuch lesen, wo man sich doch einfach den Film anschauen kann? Es sei ans Herz gelegt, denn der Text beherrscht die weit unterschätzte Kunstfertigkeit, knapp und präzise vorzugeben, was sich später in Bewegtbild und Ton überträgt. Wen also nicht nur das Produkt, sondern auch dessen Herstellung interessiert, dem eröffnet die Lektüre viel.
Kiepenheuer & Witsch, 2023, 240 S., 20 Euro
7. Joachim Schnerf: Das Cabaret der Erinnerungen
Zum 78. Mal hat sich dieses Jahr am 27. Januar die Befreiung des KZ Auschwitz gejährt. Mit jedem weiteren Jahr, das verstreicht, werden die Überlebenden immer weniger, und auch weil in Deutschland ein überwunden geglaubter Antisemitismus wiedererstarkt, ist Anlass zur Sorge geboten: Wer erinnert noch an die Shoah, wenn die letzten Augenzeug:innen tot sind?
Der französische Schriftsteller Joachim Schnerf geht in seinem dritten Roman „Das Cabaret der Erinnerungen“ der Trägheit des Vergessens und der Gewalt des Verdrängens fast zärtlich auf die Spur. Samuel, der Ich-Erzähler, wird morgen zum ersten Mal Vater. Doch statt Glück überkommt ihn die Angst: Wie soll diese neue Generation mit dem jüdischen Erbe des Holocaust fertigwerden? War er selbst doch ein neurotischer Meister des Verdrängens, der kaum Kontakt zu seiner Großtante Rosa, der letzten Überlebenden von Auschwitz, gesucht hat.
Kunstmann, 2023, 128 S., 20 Euro
Aus d. Franz. v. Nicola Denis
6. Ayanna Lloyd Banwo: Als wir Vögel waren
Als Rastafari sollte sich Darwin eigentlich von Toten fernhalten, doch Geldsorgen haben den jungen Mann gezwungen, auf dem gigantischen Friedhof Fidelis als Totengräber anzuheuern. Am anderen Ende der Stadt lebt Yejide schon immer mit dem Tod: Sie ist die jüngste Tochter einer Reihe von Frauen, die mit den Verstorbenen sprechen können. Als ihre Mutter stirbt, träumt sie von einem jungen Mann auf dem Friedhof …
„Alle Geistergeschichten sind Liebesgeschichten“, sagt Ayanna Lloyd Banwo und kombiniert in ihrem Romandebüt kurzerhand beide Genres auf innovative Weise. Die magisch-realistische Handlung ist dabei eher ein Gerüst für die beiden komplexen Figuren im Zentrum – und Banwos intensive, farbenfrohe Schilderung der Karibikinsel Trinidad, auf der sie aufgewachsen ist.
Diogenes, 2023, 352 S., 24 Euro
Aus d. trinidad-kreol. Engl. v. Michaela Grabinger
5. Priya Guns: Dein Taxi ist da
Autofahren und Krafttraining: Daraus besteht Damanis Alltag. Als RideShare-Fahrerin kutschiert sie für einen Hungerlohn alte Damen zum Bingo und holt besoffene Klubgäste ab – und macht Überstunden, um ihre Mutter zu ernähren, die seit dem Tod des Vaters nicht mehr die Couch verlässt. Eines Tages sitzt Jolene auf ihrer Rückbank: weiß, blond, schön und reich. Sie engagiert sich als Sozialarbeiterin, hat aber täglich Zeit für Yoga, und ihre Eltern haben ein Sommerhaus. Trotzdem verlieben sich die ungleichen Frauen ineinander, und Damani nimmt Jolene mit in das autonome Zentrum der lokalen migrantischen Community. Doch als die Sprache auf Gewerkschaften und Widerstand kommt, stößt Jolenes Solidarität schnell an ihre Grenzen. Damani muss feststellen, dass manche Träume zu schön sind, um wahr zu werden …
Dass Priya Guns nie explizit macht, in welcher Stadt ihr Debütroman spielt, ist eine sehr bewusste Entscheidung, denn das Kernproblem, das sie behandelt, ist universell: Klassismus und Rassismus, verwoben und unsichtbar gemacht hinter einer dünnen Schicht Liberalismus. Mit atemlos kurzen Kapiteln, einer zynischen Erzählerin und gleich mehreren Verweisen auf „Taxi Driver“ liefert sie eine gnadenlose Entlarvung bürgerlicher Heuchelei.
Blumenbar, 2023, 329 S., 23 Euro
Aus d. Engl. v. Mayela Gerhardt
4. Katrin Seddig: Nadine
„Soll der Alltag sein Werk tun, sie unterwirft sich ihm und führt seine Anweisungen aus. Er erzeugt immer wieder dieselben Regungen in ihr.“ Von klein auf hat sie vom despotischen Vater eingetrichtert bekommen, nicht zu laut zu reden und sich gerade zu halten. Nadine schlägt als junges Mädchen einfach zu, wenn sie nicht weiterweiß, doch mit Anfang 50 kann sie ihre Impulse einigermaßen kontrollieren. Sie erfüllt Erwartungen und spielt ihre Rolle als Tochter, Ehefrau, Mutter und Angestellte in einem Anwaltsbüro. Bis zu dem Tag, an dem sie vom Selbstmord ihrer erwachsenen und bereits selbst schon verheirateten Tochter Mizzi erfährt und sich nach und nach rausstellt, dass Mizzi einen heimlichen Liebhaber gehabt hat, wegen dem sie wohl auf die Bahngleise gegangen ist …
Erneut wagt sich Katrin Seddig auf das Schlachtfeld dysfunktionaler Familien, und auch wenn sie ihren sechsten Roman so spannend wie einen Thriller baut, setzt sie immer wieder zum Zeitsprung an, um die Weitergabe von Verletzungen über mehrere Generationen zu durchleuchten und ihre Figuren mit psychologischer Tiefenschärfe, gebührendem Respekt, aber eben auch dem so typischen Seddig-Humor zu zeichnen.
Rowohlt Berlin, 2023, 304 S., 24 Euro
Die besten Bücher im Mai 2023 TOP 3
3. Paul Brodowsky: Väter
Wie Vater sein, wenn der eigene Vater immer distanziert, kalt, angsteinflößend war? Für Paul Brodowsky beginnt mit dieser Ausgangsfrage eine Reise in die Vergangenheit. Von Anfang an verwischt er dabei die Grenzen zwischen Fiktion und Realität: Sein Ich-Erzähler heißt ebenfalls Paul Brodowsky, hat einst die Zeitschrift BELLA triste gegründet und schreibt nun an seinem ersten Roman, aber eigentlich an seiner Autobiografie. Sein Vater, Jahrgang 1933, ist im NS-Ethos erzogen worden und spricht endlich darüber, als sein erwachsener Sohn ihn explizit danach fragt. Alte Narben werden sichtbar: der harte Alltag auf dem Nazi-Internat, der Großonkel, nach dem Paul benannt ist und der zugleich Parteimitglied war, die Flucht aus dem heutigen Polen. Der Sohn, selbst Vater zweier kleiner Kinder, erinnert sich seinerseits an eine Kindheit voller Furcht vor der väterlichen Wut – und versucht nicht immer erfolgreich, es mit dem eigenen Nachwuchs besser zu machen.
Ein eindringliches Thema, in dem sich zugleich die Erbsünden der Bundesrepublik spiegeln – nur selten lassen Brodowskys Detailverliebtheit, seine übergenaue Naturschilderungen diesen roten Faden aus dem Blick geraten. Doch seine Aufdeckung der Spuren, die die NS-Erziehung bis heute in seiner Familie – und in zahllosen anderen – hinterlässt, ist so erhellend wie bedrückend.
Suhrkamp, 2023, 304 S., 24 Euro
2. Karin Smirnoff: Wunderkind
Agnes ist ein „Wunderkind“: komponiert atemberaubende Sinfonien, spielt perfekt Klavier. Sie sieht die Welt mit einer Klarheit, als hätte sie bereits mehrere Leben gelebt, dabei ist allein dieses ein nackter Kampf ums Überleben. Zuneigung, Fürsorge, Liebe sind in ihrem Elternhaus Fremdwörter, und die blanke Boshaftigkeit ihrer Mutter treibt sie in die Verwahrlosung: eine Ratte ihr bester Freund, ein paar Brotkrumen ihre letzte Ration. Und so findet sie in Frank Leide, einem Tennis- und Klavierlehrer, ihren Ziehvater und Talentförderer. Hingebungsvoll nimmt sich Leide neben Agnes noch weiterer Wunderkinder an, deren Förderung jedoch weniger selbstloser Güte entspringt als ein Einfallstor zur Befriedigung seiner pädophilen Triebe ist.
Karin Smirnoffs zweiter Roman schockiert – ohne zu skandalisieren. Mit der Gnadenlosigkeit kindlicher Beobachtungen nähert sie sich Machtmissbrauch und Manipulation und verzichtet dabei auf die hierarchisierende Einordnung von Kommas: Die Banalität steht unmittelbar neben der Brutalität. Obwohl Smirnoff den Blick in die Welt der Täter zulässt und nach Ursachen sucht, überlässt sie das Feld stets den Kindern und ihrer fantastisch schelmischen Sprache, in der sie Überlebensstrategien und Schutzmechanismen entwerfen. So findet sie Probleme in mitunter löchrigen Machtsystemen wie etwa den Sozialämtern, anstatt reaktionäre Todesstrafenfantasien zu befeuern.
Hanser Berlin, 2023, 320 S., 26 Euro
Aus d. Schwed. v. Ursel Allenstein
1. A. L. Kennedy: Als lebten wir in einem barmherzigen Land
London im Lockdown 2020: Die Grundschullehrerin Anna McCormic sitzt mit ihrem gerade volljährig gewordenen Sohn Paul in der Wohnung fest. Über das Internet versucht sie, den Kontakt zu ihren Schüler:innen zu halten, sie will ihnen Hoffnung machen und Lebensfreude vermitteln – womit sie nicht nur gegen die Angst vor der Pandemie antritt, sondern auch die Folgen von Brexit und Klimakatastophe relativieren muss. Noch mehr aber treibt Anna eine Begegnung mit ihrer Vergangenheit um: Sie trifft Buster wieder, mit dem sie vor 25 Jahren in Edinburgh als Teil einer Gruppe anarchistischer Straßenkünstler:innen gegen die Kriegs- und Sozialpolitik der britischen Regierung demonstriert hat. Die beiden waren damals ein Paar – doch dann verschwand Buster plötzlich spurlos, und es stellte sich heraus, dass er als V-Mann für die Polizei gearbeitet hat, um das „UnRule OrKestrA“ hochgehen zu lassen.
„Als lebten wir in einem barmherzigen Land“ belegt den ersten Platz auf unserer Liste der besten Bücher im Mai 2023: Die schottische Autorin A. L. Kennedy installiert eine wunderbar sarkastische und zugleich auch großherzige Erzählerin, um den Verfall der Gesellschaft auf den Punkt zu bringen. Doch fraglich ist, inwieweit der Grundschullehrerin auch zu trauen ist. Immer wieder baut sie Texte von Buster in ihre Erzählungen ein, die er ihr angeblich als eine Art Lebensbeichte vor die Tür gelegt hat. Ist er wirklich für das Abschlachten von Mafiabossen und Pädophilen verantwortlich? Hat er sich so zu einer namen- und willenlosen Maschine ausbilden lassen, die unhinterfragt die ihr erteilten Befehle ausführt? Um unsere Realität wirklich zu spiegeln, wäre das vielleicht zu einfach.
Hanser, 2023, 464 S., 28 Euro
Aus d. Engl. v. Ingo Herze u. Susanne Höbel
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