„Die Passantin“ von Nina George

Nina George fragt in „Die Passantin“: Muss eine Frau erst für tot erklärt werden, um gesellschaftlichen Erwartungen zu entkommen und zu sich selbst zu finden?
Barcelona, 2015: Die berühmte französische Schauspielerin Jeanne Patou entscheidet sich im letzten Moment dazu, nicht in die Maschine des Germanwings-Flug 9525 nach Düsseldorf einzusteigen. Eingecheckt betritt sie nicht das Flugzeug, sondern durch einen ungesicherten Durchgang das Rollfeld, eine Baustelle – und dann wieder das Terminal. Wieso, das weiß sie auch nicht so genau – doch dafür weiß sie als einzige, dass sie niemals in jenes Flugzeug gestiegen ist, das nur kurze Zeit später in den südfranzösischen Alpen abstürzt. Alle 144 Passagier:innen werden für tot erklärt – inklusive der Ikone Jeanne Patou.
Jeanne sieht die Nachricht ihres Todes auf dem Bildschirm einer Bar in Barcelona und ist zunächst schockiert, verwirrt – und alles andere als tot. Doch anstatt das Missverständnis aufzuklären und der Welt – allen voran ihren beiden Töchtern und ihrem Mann Bernard – ein Lebenszeichen zu geben, beschließt Jeanne, tot zu bleiben. Oder ist es gerade ihre von emotionalem und sexuellem Missbrauch geprägte Ehe mit Bernard, die sie dazu bringt, diese Gelegenheit der endgültigen Flucht zu ergreifen?
Jeanne fühlt sich in ihrer Haut fremd – und nutzt die Gelegenheit, ihrem einengenden Leben zu entfliehen
Die alte Jeanne hat ein fremdbestimmtes Leben geführt: Definiert durch ein Leben in der Öffentlichkeit, geprägt von sexistischen Anforderungen an sie als Schauspielerin, Promi, Mutter, Frau. Bestimmt durch ihren Mann, der sie immer wieder erniedrigt und sexuell missbraucht hat.
„Er ist der Sendemast. Ich die Satellitenantenne, die in Zeit und Raum hineinlauschte. Immer bereit, etwas zu tun oder zu lassen, damit es ihm gut ging.“
Jeanne sehnt sich verzweifelt nach Anerkennung und Zuneigung – doch spätestens als sie erfährt, dass ihr Mann Bernard den ehelichen Sex über Jahre hinweg gefilmt und gegen Geld verkauft hat, gibt sie diesen Wunsch auf. Mittlerweile hat sie sich jedoch so weit von sich selbst entfernt und (zum Selbstschutz?) eine Art resignierte Gleichgültigkeit entwickelt, dass ihr diese Frau auf den Videos fremd vorkommt.
„Ich habe es mir angewöhnt, über ich als ,Jeanne‘ zu denken. Ich ist eine andere. Es ist, als beobachtete ich Jeanne von jenseits der Haut, die wir uns teilen. (…) wir reden nicht miteinander, schon lange nicht mehr.“
In der Unsichtbarkeit erfindet sich Jeanne neu und lebt in einem Haus voller Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten – lediglich die tiefe Abneigung gegen Männer, die sie missbraucht, misshandelt und wegen ihres Geschlechts erniedrigt haben, ist ihnen gemein. Jeanne, die es als (tägliche) Schauspielerin gewohnt ist, ihrem Körper zu entschlüpfen, nimmt immer wieder neue Identitäten an, um nicht erkannt zu werden – und ist dennoch stets auf der Suche nach ihrer wahren Persönlichkeit.
Jeanne stirbt, während Alva wieder erwacht – und aus freiem Willen wieder in die Realität zurückkehrt
Nach vier toten Jahren trifft Jeanne dann plötzlich auf ihren Mann, an seiner Seite eine Frau, die Jeanne beinahe erschreckend ähnlich sieht. Er erkennt Jeanne und bittet sie zurückzukommen. Doch Jeanne ist nicht mehr Jeanne, sondern Alva – ihr gebürtiger Vorname steht hier symbolisch für die Person, die sie war, bevor Bernhard und die Gesellschaft sie zu Jeanne gemacht haben. Denn Alva hat genug davon, sich den sexuellen Neigungen ihres Mannes zu beugen. Genug davon, ständig nach dem europäischen weiblichen Schönheitsideal zu streben. Genug davon, als Frau nicht ernst genommen zu werden. Aber eben auch genug davon, auf der Flucht zu sein. Genug vom Totsein. Also kehrt sie in die Realität zurück – jedoch ist es dieses Mal ihre freie Entscheidung und nicht jene von Jeanne oder gar Bernard.
„Die Passantin“ – Ein Weckruf der Autorin Nina George?
Nina George hat ein absolutes Meisterwerk geschaffen und sich dabei eines Gedankenspiels bedient, das viele Menschen, wahrscheinlich insbesondere Frauen schon durchspielt haben. Was wäre, wenn … niemand dir mehr vorschreiben würde, was du tragen solltest? … niemand mehr irgendetwas von dir einfordern würde? … niemand mehr seine Bedürfnisse über deine stellen würde? … du ein Leben hättest, in welchem patriarchale Strukturen, Misogynie und Machtgefälle schlichtweg nicht existieren – sei es, weil du selbst nicht existierst?
Für dieses Was-wäre-Wenn findet Nina George unglaublich starke und klare Worte.