„Die Zweiflers“ in der ARD: Jüdisches Leben in Deutschland – tragisch, aber komisch
Ohne jeden Zweifel: Mit „Die Zweiflers“ bringt die ARD ein echtes Prunkstück an den Start. Ein kleines Serienepos über jüdisches Leben in Deutschland, die Irrungen einer Familie und Entwurzelung.
Sind Traditionen wirklich dieses einengende Korsett? Leiten sie uns nicht vielmehr behutsam durch einen eigens abgesteckten Korridor auf der Suche nach eigener Identität? Schenken sie uns nicht auch Halt und Geborgenheit? Seien sie noch so basal, jede Familie hat ihre eigenen Traditionen, Rituale, performativen Abläufe. Und wenn es eine Familie gibt, die dieses Spiel durchgespielt zu haben scheint, dann sind es die Zweiflers. Die gleichnamige ARD-Dramedyserie („Die Zweiflers“ ab sofort in der ARD-Mediathek) porträtiert über sechs Folgen das Leben einer jüdischen Familie im Frankfurter Bahnhofsviertel: komisch, anmutig, tragisch. Im deutschen TV und Kino ist jüdisches Leben aus der deutschen Gegenwart immer noch völlig unterrepräsentiert. Es gibt kaum Blaupausen, diese Serie könnte jedoch eine werden. Weil sie sich und den Zuschauer:innen viel zutraut, ohne Angst vor zu wenig Handreichung.
„Die Zweiflers“: Ab sofort in der ARD-Mediathek streamen
Im Grunde steigt die Serie gleich mit dem ersten Traditionsbruch ein: Großvater, Familienoberhaupt und Holocaust-Überlebender Symcha Zweifler (Mike Burstyn, gefeierter Darsteller des jiddischen Theaters am Broadway) versammelt die Familie, um eine weitreichende Entscheidung zu verkünden: Die familiengeführte Deli-Kette soll an einen Investor verkauft werden. Eine Entscheidung, die nicht nur auf Begeisterung stößt: „Seelenlose Roboter!“, schimpft seine Tochter Mimi (Sunnyi Melles). Der Rest will diese Aufregung allerdings nicht so recht teilen, sind Mimis Kinder doch gerade mit ganz anderen Dingen beschäftigt: Dana (Deleila Piasko), nur per Videocall zugeschaltet, scheint private Sorgen zu haben, Leon (Leo Altaras) arbeitet an seiner Vernissage, und Samuel (Aaron Altaras, bekannt aus „Unorthodox“) schlägt sich die Nächte in Berlin als Musikmanager um die Ohren. Wenig Platz, um der Familientradition hinterherzutrauern – oder?
Kaum ist dieser Schock überwunden, kursieren erste Gerüchte um Symchas Vergangenheit im Frankfurter Rotlichtmilieu nach Ende des Zweiten Weltkrieges, und ein alter Freund taucht mit einer unbeglichenen Rechnung im Delikatessengeschäft Zweiflers auf. Serienstar Samuel kriegt von alledem sehr wenig mit und verliebt sich bei seinem Besuch in Frankfurt in die Szene-Köchin Saba (Saffron Coomber), die kurz darauf schwanger wird. Und schon steht die nächste Traditions-Trouble vor der Tür: Samuels vereinnahmende Mutter Mimi hat bereits vor der Geburt seines Sohnes alles Rund um die Beschneidung geklärt. Dass er kein Jude wird, steht nicht zu Debatte. Und damit nicht genug. Ein anfänglich netter Tag mit ihrer Schwiegermutter wird für die hochschwangere Saba mit karibischen Wurzeln zur Farce: Angeblich stamme sie von jüdischen Piraten ab, erklärt ihr Mimi. Sie müsse nun auch unbedingt konvertieren.
Deutsch, Jiddisch, Englisch: Nicht nur die Bildsprache ist ausgefallen
Wie Showrunner David Hadda durch präzise Dialoge, die organisch zwischen Deutsch, Jiddisch und Englisch hin und her wechseln, beiläufige Blicke und ausgewählte Stille das Miteinander dieser dysfunktional-funktionierenden Familie inszeniert und dies alles in eine lebendig-sinnliche Bildsprache gießt, ist brillant. Schon das fantastische Serien-Intro blubbert, während Gelees in Bohnen und Fleisch übergehen. Überhaupt spielen Essen und das Sinnliche eine große Rolle. Es wird geschmatzt, geschlürft, geknackt. Es ist, als könnte man diese Serie schmecken, riechen und fühlen: die Gesänge in der Synagoge, die durch einen stumpfen Kopfschlag getöteten Fische, ein zerberstendes Spanferkel.
Ohne viel Plot und ohne zu viel vorwegzunehmen oder zu erklären, schafft es diese Serie einzig durch die so vielschichtigen und durch die Bank weg hervorragend gespielten Charaktere, eine Geschichte zu erzählen, die zum einen zwar ganz spezifisch und dadurch universell wird. Eine Geschichte über Tradition, Religion, Identität, Rollenbilder, Entwurzelung und Unterdrückung. Ein großer Familienroman als Serie. Und als Saba, ohne Samuels Familie vorher auch nur ein einziges Mal getroffen zu haben, bereits alles kommen sieht – die vereinnahmende Mutter, Samuels Abhängigkeit von ihr, familiäre Traumata, die unerfüllbaren Sehnsüchte –, und Samuel, überrascht über die präzise Vorabanalyse seiner Familie, fragt, ob sie etwa schon vorher Jüd:innen kennengelernt habe, entgegnet sie nur: „Diaspora-Shit – same but different“. Irgendwie einzigartig und doch universell.
„Die Zweiflers“: Wenn Tragik und Komik ineinander aufgehen
Szenen wie diese spielen subtil mit der gegenseitigen Anziehung von Tragik und Komik. Selten ist diese Serie nur melancholisch oder nur lustig. Diese beiden Pole fließen viel mehr umeinander herum, ohne je stereotypischen Culture-Clash-Humor zu bedienen. Selbst, als die ganze Familie bei Leons Vernissage aufkreuzt und einen Kurator wegen einer Kunstinstallation, die das industrielle Kükenschreddern mit der Massenvernichtung von Auschwitz in Zusammenhang setzt, des Antisemitismus bezichtigt, halten sich Tragik und Komik die Wage, ja hier wird sogar ganz lakonisch auf transgenerationale Traumata und deutsche Unsensibilität hingewiesen, ohne pädagogisch zu werden.
„Unsere Serie will vor allem unterhalten und hat sich das Recht rausgenommen, sich nicht erklären oder gar eine Antwort auf all diese Fragen liefern zu wollen“, erklärt Hadda. Und das ist ihm und seinem Team mehr als gelungen. Dass in den hauptverantwortlichen Positionen und Rollen hauptsächlich Jüd:innen diese Serie prägen, ist das einzige, was Hadda ein Anliegen war. Nur so konnte es gelingen, diese Familie und ihre Welt so lebendig abzubilden und so echte Charaktere zu formen. Eine so selbstbewusst inszenierte Serie hat es im Ersten womöglich noch nie gegeben. Kein Wunder, dass „Die Zweiflers“ beim diesjährigen International Series Festival von Cannes in gleich drei Kategorien gewonnen hat.