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Douglas Stuarts „Shuggie Bain“: der Booker-Preis-Gewinner 2020

„Shuggie Bain“ ist ein tieftrauriger, hoffnungsloser Debütroman – und zugleich das zärtlichste Buch dieses Herbstes.

Douglas Stuarts „Shuggie Bain“ spielt im Glasgow der 80er-Jahre, nachdem Margaret Thatchers Wirtschaftspolitik ganzen Industriezweigen den Todesstoß versetzt hat: Die Arbeitslosigkeit explodiert, und Alkoholismus, Gewalt und Depression greifen um sich.

Auch die Frauen finden kaum noch Verdienstmöglichkeiten, sie haben große Familien, und können ihre Kinder von der Sozialhilfe kaum ernähren. Trotz dieser prekären Situation hält es die Protestantin Agnes McGowan in ihrer bodenständigen Ehe mit einem braven Protestanten nicht aus. Sie verlässt ihn für den Katholiken Eugene „Big Shug“ Bain, einen Taxifahrer, zieht mit ihren beiden Kindern und dem neuen Mann zurück zu ihren Eltern und bekommt einen zweiten Sohn, der den Namen seines Vaters trägt: Shuggie Bain.

Doch Eugene kann die Finger nicht von anderen Frauen lassen – und an ihrer Eifersucht zerbricht die ohnehin nicht dem Alkohol abgeneigte Agnes. Als die Familie endlich aus der Sozialwohnung von Agnes’ Eltern ausziehen kann, lässt Eugene seine Familie in einer heruntergekommenen Bergbausiedlung am Stadtrand zurück und flüchtet zu einer seiner Geliebten. Ab diesen Punkt ist es der gerade mal sieben Jahre alte Shuggie, den Douglas Stuart von Agnes Kampf mit dem Alkohol erzählen lässt.

Zur Schule kommt er nur selten, denn er muss seine Mutter von der Tür und dem Telefon fernhalten, ihre Säuferfreund:innen abwimmeln und die Rasierklingen im Haus verstecken. Shuggie fürchtet die Launen seiner Mutter, doch er bewundert ihre Schönheit und liebt es, wenn sie nüchtern ist und ihn zu ihrem Vertrauten macht. Schläft sie betrunken auf dem Sofa ein, entkleidet er sie und wacht fürsorglich über ihren Vollrausch.

Auszug aus Douglas Stuart: „Shuggie Bain“

Shuggie stellte ihr drei Tassen hin: eine mit Leitungswasser gegen den Brand, eine mit Milch gegen das Sodbrennen, und die dritte mit den schalen Resten des Special Brew und Stout, die er im Haus gesammelt und mit der Gabel verrührt hatte. Er wusste, dass sie zuerst nach der dritten Tasse greifen würde, weil sie es war, die das Heulen in ihren Knochen beruhigte.

Er beugte sich vor und lauschte ihrem Atem. Sie roch nach Zigaretten und Schlaf, also ging er in die Küche und füllte eine vierte Tasse mit Bleiche für ihre Zähne. Dann riss er eine Seite aus seinem Aufsatz über die ,Päpste im Kaiserreich‘ und schrieb mit weichem Bleistift darauf: ACHTUNG! Zahnbleiche. Nicht trinken. Nicht mal Ausversehen.

Biografische Züge

Douglas Stuart verarbeitet mit dem Roman seine eigene Geschichte: Seine Mutter erlag dem Alkoholismus, als er 16 Jahre alt war. Später zog Stuart in die USA, wo er 20 Jahre lang in New York als Modedesigner für Labels wie Calvin Klein und Ralph Lauren gearbeitet hat. Dass er gleich für seinen ersten Roman mit dem Booker Preis 2020 ausgezeichnet wurde, verdankt er wohl nicht zuletzt auch seiner beruflichen Zwischenstation.

Mit Shuggie zeichnet er einen empfindsamen, queeren Helden, der in der rauen Arbeiterwelt wegen seiner Andersartigkeit gemobbt wird, für seine Mutter aber stark sein will und schneller erwachsen werden muss. Er klammert sich an die Schönheit seiner Mutter, die auch im größten Elend nichts auf ihr Äußeres kommen lässt: Wenn man Montag die Sozialhilfe abgeholt wird, zieht sie sich ihren guten Mantel an, trägt Lippenstift auf und setzt alles daran, den Verfall zu überdecken.

Es ist seine opulente Sprache, mit der es Douglas Stuart mit dem Elend aufnimmt. Die Abwärtsspirale ist nicht aufzuhalten, doch die Lesenden finden einen Haltegriff in der Zärtlichkeit, mit der Shuggie auf seine Mutter blickt. Vor Schmerz schützt diese Zärtlichkeit nicht, und dennoch ist da diese Hoffnung, sie sich nach dem Schließen des Buchdeckels noch lange bewahren zu können.

Douglas Stuart auf Lesereise – alle Termine

  • 25.09.2021 Hamburg, Harbourfront Literaturfestival
  • 27.09.2021 Frankfurt am Main, Literaturhaus Frankfurt
  • 28.09.2021 München, Literaturhaus München
  • 29.09.2021 Köln, Kölnischer Kunstverein
  • 30.09.2021 Berlin, rbb-Fernsehzentrum

Alle Infos zur Lesereise hier.


Buchcover „Shuggie Bain“ von Douglas Stuart

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