„Stumpwork“ von Dry Cleaning: Die Vermessung der Welt
Kaum jemand bringt unsere Gegenwart derzeit besser auf den Punkt als Florence Shaw von der britischen Postpunkband Dry Cleaning auf „Stumpwork“. Doch für ihre Mitmusiker ist das nicht immer angenehm.
Tom Dowse und Lewis Maynard von Dry Cleaning, euer zweites Album „Stumpwork“ endet mit dem Song „Icebergs“ und der Textzeile: „For a happy and exciting life/Locally, nationwide or worldwide/Stay interested in the world around you/Keep the curiosity of a child if you can/Resuscitator“. Diese Aufforderung würde auch als Geleitwort an den Anfang der Platte passen, und sie ist ganz und gar nicht ironisch gemeint, oder?
Tom Dowse: Stimmt, in gewisser Weise ist es eine sehr positive Platte. Natürlich gibt es experimentelle, für uns ungewohnt epische Songs, in denen sich wohl schon die düstere Gegenwart eingeschrieben hat. Aber das wird durch eingängige und sehr kurze Stücke auch immer wieder aufgebrochen.
Louis Maynard: Wir haben die Platte nicht als Durchhalteparole konzipiert. Tatsächlich war es aber so, dass die Musik für uns selbst ein Beistand in sehr schweren Zeiten gewesen ist. Während wir an den neuen Songs gearbeitet haben, ist meine Mutter gestorben, und die Arbeit hat mir durch die Trauer geholfen. Als sie im Krankenhaus gelegen hat und wegen der Pandemie keinen Besuch bekommen durfte, konnte sie im Fernsehen unseren Auftritt bei Later with Jools Holland sehen, und sie hat auch noch den Erfolg des Debütalbums mitbekommen. Für mich hat sich diese Erfahrung wie eine Verpflichtung angefühlt, es mit all den Widrigkeiten des Lebens aufzunehmen und nicht an der Gegenwart zu resignieren.
Gleichzeitig ist die Platte politischer. Als ich etwa über die Rede von Liz Truss beim Parteitag der Tories gelesen habe, kam mir sofort der Song „Conservative Hell“ in den Sinn. Liegt das daran, dass eure Sängerin Florence Shaw jetzt stärker als beim Debüt „New long Leg“ aus der Rolle einer aktiven Beobachterin textet und weniger Slogans aus der Werbung oder den Kommentarspalten im Netz montiert?
Dowse: Für mich waren unsere Songs von Anfang an politisch. Bei Florence sind die Bezüge nie eindeutig, und doch vermag die Stimmung ihrer Texte sehr viel zu vermitteln. Es sind meist ganz kleine Dinge, seltsame Beobachtungen im Detail, die Wahrheit in sich tragen. Konkrete Bezüge veralten sehr schnell. Und was nützt ein großes Statement, das dann doch wieder zerfasert, weil es verallgemeinernd ist?
Maynard: Ich weiß gar nicht, ob sie ihre Technik so einschneidend verändert hat, denn noch immer arbeitet sie Zitate in ihre Texte ein. Es gibt jetzt häufiger Zeilen, die schärfer und unmissverständlicher sind. Andererseits sind die Texte aber auch kryptischer, da eigentlich keiner der neuen Songs eine klare Storyline hat und auf ein bestimmtes Thema festlegbar ist.
„Für uns alle war das neue Album eine große Herausforderung, da wir nicht wie beim Debüt mit den fertigen Songs ins Studio gegangen sind, sondern uns Zeit gelassen haben, um zu experimentieren.“ Tom Dose von Dry Cleaning im Interview zum Album „Stumpwork“
Auf „Stumpwork“ hat es so viele Slogans, die ich mir am liebsten direkt auf ein Shirt drucken lassen würde. Wie ist es bei euch – habt ihr auch Lieblingssätze?
Maynard: Uff, das ist jetzt in etwa so, als hättest du mich nach meinen Lieblingsalben gefragt. Auf Knopfdruck fällt mir da keine konkrete Stelle ein. Wir verehren Florence ganz generell für ihre entlarvenden, humorvollen und zugleich auch so verletzlichen Songtexte.
Dowse: Für uns alle war das neue Album eine große Herausforderung, da wir nicht wie beim Debüt mit den fertigen Songs ins Studio gegangen sind, sondern uns Zeit gelassen haben, um zu experimentieren. So wie wir musikalisch auf ihre Texte reagieren, funktioniert es auch umgekehrt. Natürlich hat sie viele Notizen, trotzdem greift sie Akkordfolgen oder Sounds oft blitzschnell auf und flankiert die musikalischen Ideen mit passenden Worten.
Seid ihr Florence gegenüber mitunter gehemmt, weil ja jede eurer Bemerkungen in einem Songtext landen kann?
Dowse: Ich brauche oft eine Weile, um zu bemerken, dass sie eine konkrete Unterhaltung verarbeitet hat, und so stelle ich sie erst dann zur Rede, nachdem wir schon eine ganze Weile mit einem Song leben. (lacht) Vielleicht sollten wir zukünftig mehr darauf achten, dass sich in unseren Beziehungen zueinander keine Blockaden aufbauen. Wobei ich mir um Florence die wenigsten Sorgen mache: Zur Inspiration zapft sie so viele Quellen an, die werden niemals alle versiegen.