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„Eric“ bei Netflix: Benedict Cumberbatch dreht am Rad in überladener Miniserie

Netflix Eric
Das Monster Eric (Foto hinten) begleitet Vincent (Benedict Cumberbatch) auf Schritt und Tritt. (© 2023 Netflix, Inc.)

In der Miniserie verschwindet ein neunjähriger und sein verzweifelter Vater will ihn mit dem Bau einer riesigen Puppe zurückholen. Wenn es doch nur dabei geblieben wäre …

Heute startet auf Netflix die Miniserie „Eric“, in der Benedict Cumberbatch („Der Spion“) den Puppenspieler Vincent Sullivan spielt, dessen Leben nach dem Verschwinden seines neunjährigen Sohnes komplett aus der Spur gerät.

Vincent hat die beliebte Kinder-Puppenshow „Good Day Sunshine“, eine Variante der „Sesamstraße“, erfunden und ist ihr kreativer Kopf. Sein Kompagnon Lennie (Dan Fogler, „Phantastische Tierwesen: Dumbledores Geheimnis“) muss wie alle Kollegen und Kolleginnen die immerwährenden Schimpftiraden und üblen Beleidigungen von Vincent ertragen, die noch zunehmen, als sich der Sender in die Ausrichtung der Sendung einmischt und eine Anpassung an gesellschaftliche Trends und Entwicklungen fordert. Daheim nimmt Vincent die Entwürfe seines zeichenbegabten Sohnes Edgar (Ivan Morris Howe) für eine neue, zwei Meter große Puppe namens Eric, eine Michung aus Samson und Sulley aus „Die Monster AG“, gar nicht wahr. Stattdessen bricht er weinsaufend mal wieder einen furchtbaren Streit mit seiner Frau Cassie (Gaby Hoffmann, „Come on, Come on“) vom Zaun, der Edgar sehr verschreckt. Am nächsten Morgen verschwindet Edgar auf dem Weg zur Schule – und damit auch Vincents letzte Contenance …

„Eric“ bei Netflix: Mein großer, unsichtbarer Freund

Von der Idee besessen, dass er Eric, zu dem er die Entwürfe von Edgar endlich ansieht, nur ins Fernsehen bringen müsste, damit Edgar nach Haue kommt, stürzt sich Vincent in die Herstellung des Monsters. Er lässt Cassie mit der Trauer und Suche nach Edgar allein und säuft wie ein Loch. Bis er dann Eric als Produkt seiner gestressten und gestörten Psyche wirklich sieht – und ihn als grummeligen Begleiter an seiner Seite hat, der Vincents Verhalten sarkastisch kommentiert.

Derweil wird Detetive Michael Ledroit (McKinley Belcher III, „The good Lord Bird“) mit Edgars Fall betreut. Er hat täglich die Mutter eines anderen, seit elf Monaten vermissten Jungen im Flur sitzen. Bei Edgar fühlt er einigen Verdächtigen auf den Zahn, die sich aber rasch als unschuldig herausstellen. So saß der Hausmeister (Clarke Peters, „The Wire“, „Three Billboards outside Ebbing, Missouri“) von Vincent und Cassie zwar schon wegen Kindesmissbrauch im Gefängnis, war aber unschuldig und Opfer von Polizei-Rassismus. Auf dem Revier hat der von der Sitte zu Vermisste Personen gewechselte Ledroit einen schweren Stand, denn die Kollegen sind Schwulenhasser, und Ledroit ist schwarz und homosexuell und mit einem an Aids erkrankten älteren weißen Cellisten zusammen, was niemand erfahren darf. Immer wieder zieht es Ledroit in den Nachtklub The Lux, er macht heimlich Tonaufnahmen dort, die vielen jungen Stricher dort und die Tatsache, dass der Inhaber Gator sechs Jahre einsaß, erscheinen ihm verdächtig. Und wovon sprachen die beiden Cops von der Sitte, als sie einen Stricher verprügelten und einer von ihnen sagte, Acht sei tot? …

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Edgar (Ivan Morris Howe) ist selber ein begabter Zeichner und hat sich Eric ausgedacht. Foto: © 2023 Netflix, Inc.

Die sechsteilige Serie „Eric“ bei Netflix nimmt sich ziemlich viel vor, ist quasi mehrere Serien in einer. Sie handelt nicht nur von der Suche nach Edgar, einer kaputten Ehe, einem unter Psychoschäden leidenden, supergemeinen Alkoliker und seinem persönlichen Amoklauf. Serienschöpferin Abbie Morgan (Drehbuch für „Shame“ mit Michael Fassbender, „Die Eiserne Lady“ und „Suffragette“) bringt auch ein Zeitporträt des heruntergekommenen und von einer korrupten Verwaltung und Politik regierten New York der 80er unter; einer Stadt, die von Obdachlosigkeit und Drogen geprägt ist. Es geht zudem um Pädophilie, Prostitution, Homophobie, Aids, Rassismus und Gentrifizierung  – in Person von Vincents verhasstem Vater (John Doman, „The Wire“) – und nicht zuletzt um die Schönheit und Grausamkeit der Fantasie und die Verantwortung, die man als Vater hat.

Ledroits Ermittlungen im Milieu sind praktisch ein parallel laufende Serie, die nur einzelne Berührungspunkte hat mit Vincents Suche. Die gesellschaftlich-politischen Handlungsstränge erinnern durchaus an „The Wire (2002–2007), es spielen auch zwei Ensemblemitglieder aus der legendären HBO-Serie mit. Auch setzt Morgan allen denjenigen ein Denkmal, die in den von Schwulenhass gekennzeichneten 80ern ihre sexuelle Orientierung geheimhalten mussten und so in die Illegalität gedrängt wurden.

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Detective Michael Ledroit (McKinley Belcher III) leitet die Vermisstenabteilung bei der New Yorker Polizei. Foto: © 2023 Netflix, Inc.

Das ist ziemlich viel, und der Sechsteiler ächzt ein ums andere Mal unter der Themenlast, wenn Szenen unvermittelt oder im Klischee enden. Zeitweise gerät sogar Edgar aus dem Fokus der Erzählung. Eric, das fellige Monster, begleitet Vincent als unsichtbarerer Freund und ist dabei Ausdruck seines inneren Tumults. Vincent scheint als Kind auch schon unsichtbare Wesen gesehen zu haben, zu denen er sprach, was seine furchtbar blasierten Upper-East-Side-Eltern erwähnen, auch scheinen Pillen und Alkohol immer ein Problem gewesen zu sein. Mehr erfahren wir nicht. So bleibt Vincent nur ein Arsch, mit dem es kaum möglich ist mitzufühlen, und dem man mit immer weniger Interesse bei seinen Eskapaden zusieht.

Benedict Cumberbatch: Nuancen liefert ein anderer

Cumberbatch, der schon in „Sherlock“, „The Imitation Game“, „Die wundersame Welt des Louis Wain“ oder „Patrick Melrose“ geniale Figuren am Rande des Wahnsinns bzw. mit massiven Drogenproblem verkörpert hat, ist hier die ganze Zeit eigentlich auf 180 und gibt dem Affen Zucker. Er kippt die Wodka-Flachmänner runter wie ein Verdurstender in der Wüste das Wasser einer Oase und genießt die obligatorische Säufer- und Psychorolle, die jeder prämierte, anspruchsvolle Ausnahmeschauspieler in seiner Karriere offenbar einmal abfeiert – um erneut prämiert zu werden. Für die Nuancen ist dann McKinley Belcher III zuständig, der Ledroit mit stiller Hartnäckigkeit und stolzer Verletzlichkeit spielt, die im Verlauf der Geschichte immer mehr kalter Wut aufs System weicht. Was an „Eric“ wirklich großartig ist, das sind die Ausstattung und die Kostüme. Selten sind die 80er-Jahre so authentisch und aufwendig auferstanden, ohne dabei in Set-Design-Protzerei zu verfallen. Grimmig und leicht feinkörnig sind die Bilder, wie ausgewaschen die Kleidung der Figuren, dunkel die Räume, die heute von grellen LEDs beleuchtet wären. Wir fühlen und riechen das von vielen sozialen Konflikten geprägte Jahrzehnt praktisch, eine sinnliche Erfahrung.

Fazit

„Eric“ bei Netflix ist eine ambitionierte Mischung aus Vermisstendrama, Cop-Krimi, Gesellschafts- und Charakterporträt und Fantasyfilm, alles eigentlich aus Zutaten, die man aus aus früheren Serien und Filmen kennt. Die Zusammenstellung hier hat seine Qualitäten, die einzelnen Aspekte des New York der 80er basieren alle auf der Realität. So zum Beispiel die, dass bis zu 5 000 Obdachlose in verlassenen U-Bahn-Tunneln- und schächten der Stadt lebten. Weniger wäre hier aber definitiv mehr gewesen, entweder mehrere Staffeln für die ganzen Themen oder nur ein Spielfilm, der sich auf Vincent, Cassie, Edgar und Erc konzentriert. Am Ende wird das dann Alles mehr schlecht als recht und viel zu happyendig zusammengeführt, und die Frage, ob Eric jetzt bei Vincent bleibt oder er seine Dämonen besiegt – sie ist einem irgendwie egal.

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