Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor geht an Gerhard Henschel
Der Schriftsteller Gerhard Henschel erhält in Kassel den Literaturpreis für grotesken Humor. Die Laudatio hält Rainer Moritz.
Dass der Schriftsteller Gerhard Henschel jetzt den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor erhält, ist einerseits klar nachvollziehbar. Seine Satire 2002 in der Tageszeitung taz auf den damaligen Bild-Chefredakteur Kai Diekmann mit dem Titel „Sex-Schock – Penis kaputt?“ über – wie Wikipedia heute noch so schön schreibt – „angeblich umlaufende Gerüchte über eine missglückte Penisverlängerungsoperation des Bild-Herausgebers“ – ist dafür nur ein Beispiel, aber es ist auch das deutlichste, das bekannteste und das wirkmächtigste: Kai Diekmann klagte damals gegen die taz, die Satire musste von der Webseite genommen werden. Die 30 000 Euro Schmerzensgeld hingegen, die Diekmann verlangte, verwehrte ihm das Gericht mit der Begründung, „Die Kammer hält dafür, dass derjenige, der – wie der Kläger – bewusst seinen wirtschaftlichen Vorteil aus der Persönlichkeitsrechtsverletzung anderer sucht, weniger schwer durch die Verletzung seines eigenen Persönlichkeitsrechtes belastet wird.“ (Zitat nach Wikipedia). Henschel hatte sich mit seiner Satire auf eine Titel-1-Story mit der Überschrift „Sex-Schock – Baby verloren – Sorge um Frau des Botschafters – Wird sie nie wieder glücklich?“ bezogen.
So hochpolitisch sezierend Gerhard Henschel vor allem in Sachbüchern wie „Das Blöken der Lämmer. Die Linke und der Kitsch“, „Neidgeschrei“ über pathologischen Antisemitismus oder „Gossenreport. Betriebsgeheimnisse der Bild-Zeitung“ sein kann, so sehr koppt er ins nonsenshaft komische, wenn er das nur will: „Der Barbier von Bebra“ (gemeinsam mit Wiglaf Droste geschrieben) von 1996, ein zuerst in der taz erschienener Kriminalfortsetzungsroman aus dem Jahr über das Barbieren und Ermorden von Ex-DDR-Dissidenten, verursachte einen Skandal: Die damals noch bei den Grünen beheimatete und inzwischen ins extrem rechte Lager abgewanderte Vera Lengsfeld rief zum Boykott der taz auf, in der Folge wurde wieder einmal breit über die Grenzen der Satire diskutiert. Weniger negative Resonanz verursachten hingegen die Krimis neueren Datums, die Henschel seit 2020 veröffentlicht; die Reihe begann mit dem „Überregionalkrimi“ „SoKo Heidefieber“, in dem ein Serienmörder einen Regionalkrimiautoren nach dem anderen hinmeuchelt.
Eine Kostprobe aus „SoKo Heidefieber“, von Gerhard Henschel selbst gelesen und mit dem Schriftsteller Frank Schulz im Zentrum der Handlung.
Gerhard Henschel, der auch Bücher über Zungenbrecher zusammenstellt, spricht jeden einzelnen Zungenbrecher auch selbst ein.
Gerhard Henschel liest gemeinsam mit Frank Schulz und dem inzwischen verstorbenen Harry Rowohlt aus seinem „Abenteuerroman“. Henschels Alter Ego Martin Schlosser geht noch aufs Gymnasium in Meppen.
Im Zentrum des Schaffens von Gerhard Henschel aber stehen seine Familienromane, die er hinsichtlich der Arbeitsweise wie auch stilistisch stark an Walter Kempowski anlehnt. Los ging es 2002 mit dem Briefroman „Die Liebenden“, in dem Henschel die Briefe seiner Eltern und der näheren bis ferneren Verwandtschaft sorgsam redigiert zu einem Panorama der Zeitgeschichte von den 1940ern bis 1990ern verband. Es folgte der „Kindheitsroman“, der in den frühen 1960ern beginnt und eigentlich ein singuläres Werk über Henschels Kindheit bleiben sollte. Inzwischen ist Henschel mit „Schauerroman“ aber bereits beim neunten Band seiner inzwischen „Dautschlandsaga“ genannten Romanreihe und damit tief in den 1990ern angekommen. Henschel, der vor der Veröffentlichung eines neuen dieser Romane schon einmal in den Keller seines Hauses einlädt, in dem er als Schriftsteller arbeitet, zeigt mit dieser Reihe, dass er die ganze Klaviatur des Schreibens beherrscht: von trotz großer Tragik und tortz starker Emotionen völlig kitschfreien Momenten bis hin zum typisch Henschel’schen Humor, der gerade vor dem eigenen Alter Ego Martin Schlosser überhaupt nicht Halt macht. Exakt für diesen Humor wird er nun ausgezeichnet und steht damit in der Tradition von Sybille Berg, Karen Duve, Wolf Haas, Peter Rühmkorf, Gerhard Polt oder Max Goldt. Der Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor wird von der Brückner-Kühner-Stiftung gemeinsam mit der Stadt Kassel vergeben und ist mit 10 000 Euro Preisgeld dotiert. Die Laudatio wird Rainer Moritz, der Leiter des Literaturhauses Hamburg, halten.