Gunther Geltinger: Benzin
In seinem neuen Roman „Benzin“ schickt Gunther Geltinger ein in der Krise steckendes schwules Paar auf Afrikareise und erzählt so sprachgewaltig wie kein anderer Autor in diesem Frühjahr von Macht, Ohnmacht und Vorurteilen.
Es ist kompliziert mit Alexander und Vinz: Die beiden Mittvierziger sind seit vielen Jahren ein Paar. Sie haben geheiratet, wollen ihre Freiheit aber nicht komplett einschränken, und so haben sie genaue Absprachen getroffen, wie auch die intensive Nutzung von schwulen Dating-Portalen ihre Beziehung nicht gefährden kann. Das geht so lange gut, bis Vinz sich in Manuel verliebt. Statt mit dem neuen Lover durchzubrennen, entscheidet sich Vinz jedoch, die lange geplante Reise nach Südafrika anzutreten. Es ist der Rettungsversuch einer Beziehung, der in mehrfacher Hinsicht existenzielle Züge trägt: Vinz ist Schriftsteller, und die beiden Romane, die er bislang veröffentlicht hat, waren die autofiktionale Kartografie seiner Beziehung mit Alexander. Während sich der Biologe Alexander von der Reise intensive Naturerlebnisse erhofft und vielleicht auch ein paar spannende Dates klarmachen will, ist Vinz in Afrika auf der Suche nach einem neuen Romanstoff.
„Neben dem Smartphone liegt das Notizbuch. Sein Plan ist eine Art Fahrtenbuch, Skizzen von Orten, Landschaften, Begegnungen, aus denen sich wieder ein Rhythmus ergibt, eine neue Richtung für die Geschichte, an der er seit zehn Jahren schreibt: Alexander und Vinz, von A bis Z, nachlesbar in zwei Romanen, die Figuren lebensgroß, doch nicht immer wahrheitsgemäß, und dort, wo sie tatsächlich nackt und in Großaufnahme zu sehen sind, literarisch verhüllt, schließlich geht es ihm um Kunst, nicht um Pornographie. Oder doch?“
Jetzt wird auch die Unterscheidung zwischen Gunther Geltinger und seinem Erzähler Vinz kompliziert, denn auch der 45-jährige Geltinger hat mit „Mensch Engel“ und „Moor“ bislang zwei sprachgewaltige Romane veröffentlicht, die um Themen wie Coming-out, Identitätssuche, zwischenmenschliche Defizite und das Nichtkönnen von Liebe kreisen. Natürlich besteht da keine Deckungsgleichheit, und doch ergeben sich verfremdende, mitunter augenzwinkernde Überschneidungen, wenn er Vinz in Afrika mit der Fiktionalisierung seiner Erlebnisse ringen lässt.
„Seit er denken kann, kreist sein Leben um die eine Berührung, die ihn rettet, sie ist die Keimzelle seines Unglücks und Motor seines Schreibens, und die Menschen, die er sich dabei einverleibt, sind das Benzin, das er mit hoher Drehzahl verbrennt.“
Richtig kompliziert wird die Reise von Alexander und Vinz, als sie bei einer nächtlichen Autofahrt einen jungen Mann namens Unami anfahren. Ins Krankenhaus möchte er nicht gebracht werden, doch nutzt er die Angst und die Schuldgefühle der beiden aus, um sich Alexander und Vinz als Reiseführer anzubieten, der sie zu den Viktoriafällen in seinem Heimatland Simbabwe führt. In einem Land, in dem Homosexualität unter Strafe steht, geben sie sich vor ihm als Brüder aus, und auch wenn sie ihr Misstrauen gegenüber Unami im Laufe der Reise nur ganz langsam abbauen, mischt sich in den Argwohn auch Begierde.
„Er grübelte über einer Idee, die ihm kühn und gleichzeitig ungeheuerlich erschien: möglich, dass auch Unami ein geheimes Ziel verfolgte und seine Geschichten nicht nur die Angebereien eines jungen Mannes waren, dem das Leben keine Stimme gegeben hatte. Vielleicht ahnte Unami, dass er, Vinz, mit dem Gedanken spielte, ihn zu einer Romanfigur zu machen, jetzt sollte der Autor sehen, wie sein Held vor den Augen der Welt brennt.“
Auf ihrer Reise werden Alexander und Vinz mit der afrikanischen Wirklichkeit konfrontiert, die sie als weiße Touristen nur bedingt tangiert: Armut, Korruption, Terror. Unami erzählt ihnen von einem Freund, der mit einem in Benzin getränkten Autoreifen gefesselt und bei lebendigem Leib verbrannt wurde, worauf Vinz später am Abend den Begriff „Nacklacing“ in die Suchmaschine eingibt und sich zahlreiche Videos dieses schrecklichen Mordens auf seinem Smartphone ansieht. Für die Liebenden ist es eine Reise, bei der sie immer wieder auf ihnen bereits bekannte Bilder treffen, ein Erkenntnistrip zu den Abbildern von sich selbst. Geltinger hat die Kapitel von „Benzin“ mit Schlagworten überschrieben und nach dem ABC geordnet. Er springt in der Chronologie, suggeriert mit seiner verschwenderischen und nicht zielgebundenen Sprache das unmittelbare Notieren von Eindrücken und Emotionen und durchsetzt seinen Text mit literarischen Verweisen. Am Ende kommt es in dem mit „YY“ überschriebenen Kapitel zum Showdown an den Victoria-Fällen, wo Unami erfährt, dass er HIV-positiv ist und Vinz sich entscheiden muss, ob er sich mit Alexander zum verabredeten Zeitpunkt am Flughafen trifft, um den Rückflug anzutreten. Ein dem Buchstaben Z zugeordnetes Kapitel fehlt.
„Er löscht das Video; das einzige Dokument, das später für ihn zeugen wird, sind seine Erinnerungen. Er hat Alexander und sich ans Ende geschrieben, aus Manuel Unami, seine Liebeskrise zu einer Lebensfrage gemacht, jetzt hat die Form sich selbst überholt. Nicht der Roman, nicht sein Bestehen oder Versagen als Schriftsteller werden nun über ihre Form entscheiden, sondern seine Fähigkeit als Mensch.“
Carsten Schrader
Gunther Geltinger Benzin
Suhrkamp, 2019, 378 S., 24 Euro