Eine Frau mit vielen Gesichtern: „The Great Impersonator“ von Halsey
Auf ihrem neuen Album schlüpft Halsey in die Rollen verschiedener Musiker:innen. Gelingt es ihr trotzdem, ein kohärentes, authentisches Album zu kreieren?
Das fünfte Album der Popsängerin Halsey trägt den Titel „The Great Impersonator“. Und der Name ist Programm. Jeder Song orientiert sich am Stil eines anderen Künstlers oder einer Künstlerin, die Halsey inspiriert haben. Auf ihren Social-Media-Kanälen verkleidet sie sich und imitiert verschiedene Musikikonen. Sie deckt dadurch gleich vier Jahrzehnte der Musikggeschichte ab und zeigt gleichzeitig neue Seiten von sich selbst. Währenddessen bedient sie eine Bandbreite an verschiedenen Musikrichtungen. Die Sängerin aus New Jersey stellt sich mit diesem Album die Frage, ob sie in all diesen Musikrichtigungen immer noch sie selbst sein kann (siehe Album-Trailer oben).
Schattenseiten des Ruhmes
Das Album startet mit einer Hommage an eine der größten Ikonen Hollywoods: Marilyn Monroe. Der Opener trägt den Titel „Only Girl living in LA“ und beschreibt die dunklen Seiten des Ruhmes. Ein Thema, mit dem die Inspirationsquelle, Monroe, ebenfalls zu kämpfen hatte. Der Song klingt ruhig und minimalistisch.
Das gleiche Problem behandelt das Lied „Lucky“, das sich stark an Britney Spears gleichnamigen Hit orientiert. Halsey kehrt Spears’ Song um. Aus dem originalen „She’s so lucky/ she’s a star“ wird bei Halsey „I’m so lucky, I’m a star“. In beiden Songs wird deutlich, dass hinter einer glücklichen Fassade eines Popstars oft eine Tragik steckt, die auf den ersten Blick nicht erkennbar ist. Das wird von dem dazugehörigen Musikvideo zusätzlich unterstützt. Schnell stellt man fest, dass auch hier die Einflüsse von Britney Spears klar erkennbar sind. Das Video ist eine Hommage an den Popstar, der viele Jahre unter der Vormundschaft des Vaters litt und nun endlich der Hollywoodmaschinerie entkommen konnte.
Auch der Titletrack, „The Great Impersonator“, handelt von diesem Thema. Der letzte Song des Albums klingt eigentlich ganz fröhlich. Aber das täuscht. Denn er ist eigentlich ein Hilferuf: „This is a cry for help, callin’ for assistance/ But you can’t tell I need it when you’re watching from a distance“. Die Björk-inspirierte musikalische Untermalung des Textes erinnert an eine Zirkusshow. Denn egal, wie schlimm es einem geht – the show must go on.
Halseys Briefe an Gott
Drei Songs auf diesem Album tragen den Titel „Letter to God“. Jeder von ihnen markiert ein bestimmtes Jahr. „Letter to God (1974)“ ist eine Hommage an die Popikone Cher. Halsey versetzt sich zurück in ihre Kindheit und erinnert sich daran, dass sie sich gewünscht hat, krank zu sein, damit ihre Eltern ihr mehr Aufmerksamkeit schenken: „Please, God, I wanna be sick/ I don’t wanna hurt so get it over with quick“.
Der zweite Brief, „Letter to God (1983) ist inspiriert von einem der größten Musiker aus ihrer Heimat New Jersey: Bruce Springsteen. Seit dem vorherigen Brief springt sie einige Jahre nach vorne. Nun hat sie mit mehreren Krankheiten zu kämpfen und wünscht sich nichts sehnlicher, als endlich gesund zu sein: „Please, God, I don’t wanna be sick“.
Im letzten Brief stellt sie die Ironie der Geschehnisse fest. Das, was sie sich als Kind gewünscht hat, ist nun wahr geworden, aber entspricht nicht mehr dem, was sie möchte: „Please, God, oh, you’ve Gotta be sick/ Why do you make it hurt, and why’s it over so quick?“ Klanglich hat sich Halsey hier von der R&B-Sängerin Aaliyah inspirieren lassen. Dieses wiederkehrende Element bringt dem Album, trotz der verschiedenen Klangwelten, zusätzliche Kohärenz.
Halseys letztes Album?
In ihrem Albumtrailer zu „The Great Impersonator“ gesteht Halsey ihre Angst, dass dies ihr letztes Album sein würde. Sowohl ihre psychische als auch ihre körperliche Gesundheit legten ihr Steine in den Weg. Wie auf ihrem vorletzten Album „Manic“ rückt Halsey auch hier ihre Psyche in den Vordergrund. Der Song „Ego“ handelt von depressiven Episoden und einem ständigen Gefühl von Traurigkeit: „I’m doing way worse than I’m admitting“. Der Song lehnt sich mehr in die Punk-rockige Richtung als der Rest des Albums. Dolores O’Riordan, die Frontsängerin der Band The Cranberries war hierfür das Vorbild.
In „Dog Years“ wird das Gefühl der Aussichtslosigkeit ebenfalls beleuchtet. Sie singt: „I’m one hundred ninety-six in dog years/ I have seen enough/ I’ve seen it all“. Zu ihren psychischen Kämpfen kamen außerdem noch starke körperliche Beschwerden. Unter anderem erhielt sie vor kurzem die Lupusdiagnose. In der Mitchell-esquen Folkballade „The End“ zeigt sie sich verletzlich. Denn sie hat in schwierigen Zeiten endlich die Unterstützung, die sie sich wünscht. Hoffnungsvoll fragt sie: „And I know it’s not the end of the world, but could you pick me up at 8?/ ’Cause my treatment starts today“.
Liebe oder Panikattacke?
Auf einem so facettenreichen Album darf die Liebe natürlich auch nicht fehlen. Aber Halsey ist selten optimistisch. In dem verträumten Track „Panic Attack“ beschwört sie ihre innere Stevie Nicks. Denn der Song klingt sehr wie die Fleetwood Mac Ballade „Dreams“. Halsey besingt hier Gefühle, die sich nicht klar einordnen lassen. Sind die Schmetterlinge im Bauch nicht doch ein Warnsignal des Körpers, sich nicht auf eine Person einzulassen? Sie stellt sich die Frage: „Is it love or a panic attack?“
In eine ganz andere Richtung geht der Song „Lonely is the Muse“. Darauf zeigt Halsey erneut ihre rockigere Seite und beklagt sich darüber, immer nur die Muse zu sein, die sich einer anderen Person anpasst. Der alternative Track „Arsonist“ hört sich etwas experimenteller an. Sie lässt sich von der düsteren Musik Fiona Apples inspirieren und singt von einer romantischen Beziehung mit einer gefühlskalten Person: „Arsonist, burning down the world to feel its heat“.
Konzept im Vordergrund?
„The Great Impersonator“ gibt Halsey die Möglichkeit, sich auszuprobieren und neue Klangwelten zu erkunden. Passenderweise ist auch ein Song, „Darwinism“, dem Musikchamäleon David Bowie gewidmet. In „Hurt Feelings“ versetzt sie sich zurück in ihr 19-jähriges selbst und schreibt einen Song, der klanglich auf ihr erstes Album „Badlands“ passen würde.
Insgesamt ist „The Great Impersonator“ ein spannendes Projekt, denn es erlaubt Halsey, verschiedene Klangwelten erkunden, ohne den roten Faden zu verlieren. Gleichzeitig wirkt keiner der Songs unauthentisch. Auch in der Vergangenheit erkundete sie bereits mehrere Genres. Ein Makel ist allerdings, dass nicht aus jedem Song inhärent klarwird, wer die musikalische Inspirationsquelle darstellt. Ohne Vorwissen fällt es manchmal schwer, einen Künstler oder eine Künstlerin herauszuhören. Nichtsdestotrotz eröffnet „The Great Impersonator“ eine Bandbreite an Optionen, wie es mit Halsey weitergeht – sollte es nicht ihr letztes Album gewesen sein