„In die Sonne schauen“: Dieser Film ist Weltkino

Mascha Schilinskis Film gewann in Cannes den Preis der Jury. Jetzt kommt ihr Meisterwerk „In die Sonne schauen“ bei uns in die Kinos. Volker Sievert hat den Film gesehen und ist begeistert.
Das erste Mal seit acht Jahren lief ein deutscher Film im Wettbewerb des Filmfestivals von Cannes und gewann dann auch noch den Preis der Jury, die erste Auszeichnung für eine deutsche Regisseurin in Cannes überhaupt: „In die Sonne schauen“ von Mascha Schilinski. Dem Film eilten mächtige Vorschusslorbeeren voraus – und „In die Sonne schauen“ bestätigt sie mühelos.
Mascha Schilinski erzählt in ihrem Film „In die Sonne schauen“ assoziativ und zwischen den Jahrzehnten hin und her springend hundert Jahre im Leben der vier Frauen und Mädchen Alma (Hanna Heckt), Erika (Lea Drinda, „Where’s Wanda“, „Der Greif“), Angelika (Lena Urzendowsky, „Luden“, „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“) und Lenka (Laeni Geiseler, „Was Marielle weiß“) und ihren Familien auf einem Vierseithof in der Altmarck. Sie alle ringen mit der Zeit und dem Leben, in das sie hineingeboren wurden, und eine Art schauerlicher Fluch scheint auf diesem Hof zu lasten – oder ist das nur das Grauen des Patriarchats?
Schilinksi bedient sich zahlreicher ungewöhnlicher visueller Mittel, um ihre Erinnerungsstrom zu erzählen. Fabian Gampers Kamera schaut durch Schlüssellöcher, Mauerspalten, zwischen Kleidern hindurch und an Kleidern hinunter, mal wird das Bild abrupt unscharf und verschwommen, mal schälen sich die Figuren aus dem Dunkel, oft ersetzen Blicke das eh Unaussprechliche, regelmäßig blicken sie auch uns, die Zuschauenden, direkt an. Es liegen Fragen, Vorwürfe in diesen Blicken. Auf der Tonspur klopft, knirscht, rauscht, dröhnt es. Alma, Lenka und die lebenshungrige Angelika begleiten das Geschehen auch verbal aus dem Off, so verknüpfen sich Stränge, die lose in der Narration flattern.
Michael Hanekes „Das weiße Band“ schwingt bei Schilinskis zweitem Spielfilm mit, die Filme von Terrence Malick, Folk-Horror wie „Midsommar“, auch die filmischen Meditationen des thaliändischen Regisseurs Apichatpong Weerasethakul – und ganz viel eigener Mascha-Schilinski-Stil im 4:3-Bildformat. Denn „In die Sonne schauen“ ist mit seinen Handlungsorten und den Epochen Kaiserreich, Zweiter Weltkrieg, 80er-Jahre und Gegenwart ein sehr deutscher Film, der Schmerzen, Verletzungen und transgenerationale Traumata deutscher Frauen zum Gegenstand hat, die sich aus der deutschen Geschichte, ihrer Religion und der jeweiligen Gesellschaft ergeben. Der Tod und das Jenseits spielen für die Frauen eine so große Rolle im Leben, der Film könnte auch den Beititel „Ein deutsches Requiem“ oder „Eine deutsche Geistergeschichte“ tragen. Omnipräsent sind die Toten, es sterben die Kinder und Alten, die Frauen flüchten sich mehr als einmal in den Tod – vor einem furchtbaren Leben, das die Männer für sie bestimmt haben, aus Furcht vor dem, was die Männer ihnen antun könnten, manchmal auch aus Depressionen oder vererbten suizidalen Tendenzen. Das Dasein ist für Alma, Erika, Angelika und Lenka eines an der Grenzlinie zwischen Diesseits und Jenseits, dort, wo auch der Sex beheimatet ist, denn er stellt etwas Verbotenes und Sündhaftes dar – zumindest für Frauen.
Mascha Schilinskis Film ist wie ein düsteres und verstörendes Gedicht, das auch hellsichtig und visionär ist – durch seine ästhetische und schauspielerische Kraft und seine ungeheuere Stilsicherheit geht von ihm eine Energie aus, die weit über das hinausragt, was das deutsche Kino in den letzten Jahren geschaffen hat. Es ist nicht übertrieben, zu sagen: Einen solchen Film hat es in diesem Land noch nicht gegeben. Er ist Weltkino.