Zum Inhalt springen

Jeanette Winterson: Frankissstein

61S4WZfIEGL

In ihrem Roman „Frankissstein“ verknüpft Jeanette Winterson den historischen Horrorklassiker mit futuristischen Hightechfragen.

Frankenstein und Künstliche Intelligenz? In ihrem wahnwitzigen Roman „Frankissstein“ verknüpft Jeanette Winterson den historischen Horrorklassiker mit futuristischen Hightechfragen. Auf zwei Zeitebenen begegnet den Leser*innen der uralte Menschentraum, in die Schöpfung eingreifen zu können: Während die Erzählung mit Frankenstein-Erfinderin Mary Shelley vor 200 Jahren in den Schweizer Bergen beginnt, wird man im nächsten Kapitel in die Gegenwart katapultiert. Auch hier tritt die Figur Shelley auf, dieses Mal als Transgender-Arzt Dr. Ry Shelley, der den renommierten Professor Victor Stein auf seiner KI-Forschungsreise begleitet und sich in ihn verliebt. Was zunächst als fiktives Biopic-Begleitkapitel erscheint, entpuppt sich mehr und mehr als inhaltliche Verschränkung beider Erzählebenen. Dabei wechselt Winterson jeweils den Stil, so dass man sich abwechselnd an die Gesprächsatmosphäre einer Jane-Austen-Verfilmung mit intellektuellem Anspruch und eine überdrehte US-Komödie erinnert fühlt. Während um die historisch-literarische Figur Mary Shelley vor allem philosophische Fragen kreisen, die Winterson immer wieder in Verbindung mit Denkern wie Thomas Hobbes oder Ovid in Verbindung bringt, sind die Gegenwartspassagen mit Ry Shelley deutlich unterhaltsamer gehalten. Auf ethische Überlegungen verzichtet der Gegenwartsstrang nicht, allerdings werden die zahllosen thematischen Aufgriffe oft nur kurz angerissen, ohne sie zu vertiefen. Will man sich hier wirklich inhaltlich abarbeiten, braucht es viel Hintergrundwissen.

Wo bleibt das Menschliche, das Emotionale?

Wenn Winterson den Brexit, erstarkende Nationalismen oder queer-feministische Punkte einfließen lässt, hat man zudem ein wenig den Eindruck, sie wollte jedes derzeit relevante Gesellschaftsthema einarbeiten. Doch das Kernthema ist bereits weltumfassend genug. Die Idee hinter dem unermesslichen Schöpfungswillen kommt vor allem in den Überlegungen der Frankensteinfigur zum Ausdruck: Für das skurrile Forschungsgenie stellt die KI eine evolutionäre Form des Menschen dar – das künstliche Wesen als bessere Menschenversion. Zweifel und Schwächen könnten ja durch Algorithmen erkannt und behoben werden. Doch wo bliebe da noch das Menschliche, das Emotionale? Diese entscheidende Frage überlässt Winterson der eigentlichen Schöpferfigur Ry Shelley, die für Victor Stein Faszination und Rätsel zugleich verkörpert. Winterson verwebt nicht nur Zeitebenen, Reales und Fiktion, sondern vor allem auch ihre Figuren – in jeder steckt ein Teil der anderen. So kann der Roman schnell zu groß erscheinen. Bei dieser Komplexität hätte bereits eine Ebene gereicht, denn es braucht Ruhe zum Durchatmen, um eine der größten aller menschlichen Fragen zu verinnerlichen. jb

 

Jeanette Winterson Frankissstein.

Kein & Aber, 400 S., 24 Euro

Aus d. Engl. v. Brigitte Walitzek u. Michaela Grabinger

Bei Amazon bestellen

Beitrag teilen: