Zum Inhalt springen

Die falschen Fuffziger

Buchcover zu „Der Petticoat Mörder“ von Leonard Bell

Ein junges Ermittlerpaar im Berlin der Nachkriegszeit: „Der Petticoat Mörder“ von Leonard Bell könnte der perfekte Auftakt für eine erfolgreiche Krimiserie sein. Doch im ersten Band muss erst mal die Vergangenheit aufgearbeitet werden …

Sich von Büchern in vergangene Jahrzehnte entführen zu lassen, ist immer noch die beste Art, dem Alltag zu entkommen. Besonders bei deutschen Krimireihen stehen die Nachkriegsdekaden derzeit hoch im Kurs, in denen dann mit schöner Verlässlichkeit alte Nazigräuel und verdrängte Soldatenverbrechen ans Licht kommen. Immerhin im – aus heutiger Sicht – stylischen Ambiente der Aufbau- und Wohlstandsjahre. Dass Nierentisch- und Buttercreme-Ära an gesellschaftlichen Untiefen weit mehr zu bieten haben, findet sich in den Retrokrimis leider eher selten. Wie man trotz vermeintlicher Genrestandards überraschend gut unterhält, zeigt die neue Serie eines Autors, der sich hinter dem Pseudonym Leonard Bell versteckt. Bei der Zeitreise in das West-Berlin der späten 1950er treffen wir auf den jungen Kriminalassistenten Fred Lemke, der gleich an seinem ersten Arbeitstag beim LKA mit seiner vorlauten Art beim altgedienten Kommissar Auweiler aneckt. Statt sich bei einem Toten am Fennsee auf Raubmord als Motiv festzulegen, folgt Lemke seinem Bauchgefühl und hält die Ermittlungen in Gang. Zusammen mit seiner ebenfalls neu eingestellten Kollegin Ellen von Stain erkennt er, dass hinter den Machtspielchen der Vorgesetzten mehr als nur ein Generationenkonflikt steckt. Wer war während des Krieges Mitläufer, wer Täter? Lemke sieht genau hin, muss aber auch lernen, richtig zu interpretieren. Eine rätselhafte Markierung auf einem blutbeschmierten Petticoat führt ihn zu einem grausamen Verbrechen. Und zu der Frage, nach welchen moralischen Grundsätzen er über Menschen richten will.

Leonard Bell erweckt eine Welt zum Leben, die nach dem Zusammenbruch erst wieder die Normalität lernen muss. Noch sind die Trümmerhaufen da, die von den Polizisten auf ihren Dienstfahrrädern umkurvt werden müssen. Noch gibt es seelische Trümmerhaufen, die beim Umgang miteinander im Weg sind und alte Schuld verbergen. Doch ist die Verlockung groß, in einer immer bunter werdenden Nachkriegswelt möglichst viel zu vergessen. Bell sind die vielen gelungenen Alltags- und Gesellschaftsbeobachtungen wichtiger als böse Altnazis. Klar, die zieht auch er irgendwann aus dem Hut, doch liegt sein Fokus auf der neuen Generation. So umgibt Bell sein sympathisches Ermittlerduo geschickt mit noch ungeklärten Rätseln, deren Auflösung sich über mehr als nur eine Fortsetzung erstrecken könnte. Da ist die Andeutung Freds, auf einer privaten Suche nach einer Ilsa zu sein. Da ist die uneindeutige Funktion der unnahbaren Ellen als Sonderermittlerin, die anscheinend aufgrund ihrer adligen Herkunft mit Vorrang behandelt wird. Wenn wir uns also von Leonard Bell wieder in die Vergangenheit entführen lassen, dann hoffentlich, um dort nicht nur auf Nazigrusel zu treffen.

Beitrag teilen: