Matthias Nawrat: Der traurige Gast
Die Stärke von Matthias Nawrats neuem Roman „Der traurige Gast“ offenbart sich erst später, nach dem Lesen.
Ein Erzähler, der seltsam schemenhaft bleibt, Einzelschicksale, die seltsam zusammenhanglos scheinen: „Worum geht es hier eigentlich?“, möchte man nach 150 Seiten „Der traurige Gast“ fragen – und man ist auch weitere 150 Seiten später nicht viel schlauer. Ein Mann streift durch Berlin, es ist der Winter nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz. Er trifft auf Menschen, die ihm bereitwillig, ja ungefragt ihre tragischen Lebensgeschichten und ihre Einsamkeit offenbaren, alles sehr traurig, düster, vor allen Dingen aber privat, zunächst. Doch in den Monologen der Gesprächspartner seines namenlosen Ich-Erzählers lässt Matthias Nawrat immer wieder auch die großen Themen durchblitzen. So schildert die Architektin mit polnischen Wurzeln eindringlich, wie ihre jüdische Familie im Zweiten Weltkrieg beinahe ausgelöscht wurde. Sie sagt: „Die reine Logik sagt mir, dass die Deutschen […] auf eine Bereitschaft in der zivilen Bevölkerung gestoßen sein müssen, auf bereits fortgeschrittene Ausgrenzungsprozesse und auf wenn nicht immer bereitwillige Akzeptanz, so doch zumindest auf die Willigkeit der Leute, wegzuschauen, vielleicht weil sie aus dem Augenwinkel schon auf die Besitztümer der Juden schielten.“ Der Erzähler versucht einen Widerspruch gegen diese ebenso sachlich wie unverhohlen formulierte Anklage – „Es gibt doch Beispiele für Leute, die ihr Leben riskiert haben“. Er erntet ein Lachen; dann verabschiedet er sich und geht einkaufen. So sind das Leben und die Dialoge in diesem Buch, es sind die Leben und Dialoge einer deutschen Hauptstadt, und hierin zeigt sich dann doch ein hauchdünner blassroter Faden. Die Vergangenheit trifft auf die Gegenwart trifft auf die Vergangenheit – alles ist miteinander verwoben, früher wie heute erleiden die Menschen Verluste, verarbeiten Schicksalsschläge, kämpfen mit ihren Migrationserfahrungen, tun sich schwer mit einem Heimatbegriff. Einen sperrigen Roman hat Matthias Nawrat hier vorgelegt, und nach zwei Mal 150 Seiten ist man ein bisschen erschöpft, ein bisschen ratlos. Aber auch ein wenig reicher – denn unerwartet hallen diese Romanfiguren nach, rufen sich deren Biografien in Erinnerung. So offenbart sich die Stärke von „Der traurige Gast“ erst später, nach dem Lesen. Die Frage, worum es hier eigentlich ging, ist bis dahin längst vergessen. jul
Matthias Nawrat Der traurige Gast
Rowohlt, 2019, 304 S., 22 Euro