Arbeiter- und Bauernopfer
Max Annas lässt im zweiten Band seiner Ostpolizei-Serie „Morduntersuchungskommission“ ein paar Jugendliche gegen den Staat rotzen – und holt so ein für die DDR undenkbares Verbrechen ans Tageslicht …
Max Annas legt den zweiten Band seiner Ostpolizei-Serie vor. 1985. Für die DDR ist es dreiviertel zwölf. Noch sind Glasnost und Perestroika nur eine Idee vom neuen Generalsekretär der SU, aber im deutschen Arbeiter- und Bauernstaat fängt der real existierende Sozialismus schon an wegzubröckeln. Im Westen halten Punker die Parole „No Future“ ihrem System entgegen – und das passt auch zur SED-Tristesse in Thüringen. Ein paar Jungspunden in Jena ist es zu trabbigrau und wurstbemmig für ihre Neonträume. Melchior, Thomas, Frank und Pfarrerstochter Julia probieren ungelenke Provokation durch Krachmusike, schreien Selbstgetextes ins VEB-Mikro und schleudern sich mit dilettantischer Instrumentenbearbeitung aus dem sozialistischen Gleichtakt. Destruktive Elemente – ein klarer Fall für die überforderten Genossen, die diese Rotznasigkeit gleich mit Auftrittsverbot, VoPo-Knüppeln und Stasi-Schikanen kontern. Als Bassist Melchior erschlagen in einem Schuppen gefunden wird, ist es ein Fall für die Morduntersucher aus Gera. Dessen Oberleutnant Otto Castorp versucht, seine Arbeit von Politik und Eheproblemen zu trennen und will trotz latenter Bierfahne vor allem ein aufrechter Ermittler sein. Im Zweifel ist der Täter immer ein Systemfeind – und da gerät schnell Melchiors Vater ins Visier. Den macht allein sein Ausreiseantrag verdächtig, zudem verstrickt er sich in Widersprüche. Castorp stößt jedoch auf Melchiors IM-Tätigkeit und ein brisantes Foto aus Kriegszeiten, was wiederum einen Major der NVA arg in Bedrängnis bringt. Doch Soldaten sind ja keine Mörder, oder?
Max Annas (u.a. „Illegal“) hat sich in den letzten Jahren der DDR ein Bild von den Menschen und ihren Alltagsrealitäten gemacht. Dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung erweckt er diese Zeit zum Leben – ohne Ostalgie und Besserwessirei, mit dem tragisch agierenden Polizeileutnant Otto Castorp. Die auf vier Bände angelegte Serie zählt schon jetzt zum Kanon der deutschen Kriminalliteratur: Max Annas zeigt politische Zeitgeschichte aus der Sicht von einfachen Menschen, die abwägen müssen, inwieweit sie ihre moralischen Überzeugungen dem diktatorischen System unterordnen. Dabei trifft Max Annas den Sound der Zeit und schafft authentische Charaktere: Otto Castorp ist kein Systemrebell – auch wenn er im ersten Band mit Selbstjustiz für Gerechtigkeit sorgt. Diesmal sinkt er nach der vermeintlichen Klärung des Mordfalls Melchior zu Boden. Wieder aufstehen und mit geradem Rücken weiter zu gehen, ist verdammt schwierig …