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Prof. Peter Weibel: Generalstreik gegen aushungernde Kultur!

Peter Weibel ZKM
(Peter Weibel © ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe)

ZKM-Chef Prof. Peter Weibel hat nicht nur klare Forderungen an den Staat, sondern sieht dringenden Handlungsbedarf – mit deutlichen Zeichen.

Prof. Peter Weibel (*1944 in Odessa) ist österreichischer Medienkünstler, Kurator und Medientheoretiker. Seit 1999 leitet er das Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe. Mit seinem Statement startet Prof. Peter Weibel unsere Diskussionsreihe.

„Ich vertrete schon lange die These, dass es zu einem paradoxen negativen Aspekt der Demokratie gehört, dass sie die Position der Kultur schwächt. Man kann dieses Urteil einschränken, wenn man präzisiert, dass es sich ja nicht um die ideale Demokratie handelt, sondern um die reale – etwa so wie man seinerzeit vom real existierenden Sozialismus gesprochen hat, um den Unterschied zwischen verwirklichter Realität und Ideal zu betonen. Die real existierende Demokratie ist in Frankreich eine Präsidialdemokratie oder eine Parteiendemokratie. Die Parteien denken nicht für das Wohl aller Bürgerinnen und Bürger, sondern vertreten die Interessen ihrer Wähler, d. h. sie tendieren zu Klienteldenken und Lobbyismus. Die einen vertreten die Interessen der Bauern, die anderen die Interessen der Hoteliers usw. Die Kultur hat statistisch gesehen zu wenig Gewicht. Ihr prozentualer Anteil an der Gesamtbevölkerung ist zu gering, damit sich eine Partei für die Interessen der Kultur als Wählerschaft interessiert. Diese schon schiefe Sachlage wird verstärkt durch die Herrschaft der Massen und Massenmedien. In Österreich ist es beispielsweise so, dass die Presseförderung nach Auflagenstärke funktioniert, d. h. die Kronenzeitung, die Bildzeitung Österreichs, erhält im Jahr 20 Millionen Zuschuss. Kritisch-intelligente Blätter haben naturgemäß weniger LeserInnen und erhalten deutlich geringere Zuwendungen. Der Staat fördert auf diese Weise die Dummheit, die Intoleranz, die Demagogie, die Unbildung etc. Auch der öffentliche Rundfunk denkt an die Quote, nicht an die Qualität. Dadurch gehören diese Medien (Fernsehen, Radio) nicht mehr zu den Medien der Kunst.

Die dritte Programmatik ist die Frage der Repräsentationskultur. Ich lese in den Zeitungen, dass Bankdirektoren wie Herr Ackermann und andere Wirtschaftskapitäne laufend von Frau Merkel in das Kanzleramt eingeladen wurden. Ich habe nie gelesen, dass Frau Merkel in all den Jahren KünstlerInnen oder WissenschaftlerInnen in das Kanzleramt eingeladen hätte. Im Gegenteil, wenn Tausende SchriftstellerInnen eine Petition vorbrachten, hat sie diese weder beantwortet noch die VertreterInnen der Petition empfangen, selbst wenn diese vor den Toren des Kanzleramtes standen. Die Verachtung der Intellektuellen, die ihr Parteikollege Ludwig Erhard „Pinscher“ nannte, hat sie als CDU-Erbe offensichtlich weiter gepflegt. Die Aristokratie und die Großbourgeoisie haben noch bis in das 19. Jahrhundert die Künste als Medien der Repräsentation gefördert. Sie brauchten die Künste, weil nur diese die Bilder und Bauten ihrer Macht und Herrlichkeit herstellen konnten. Der heutige Staat hingegen hat als Medium der Repräsentation die Wissenschaft gewählt. Darum treten jetzt in der Corona-Krise die MinisterInnen immer in der Begleitung von WissenschaftlerInnen der Virologie auf, um sich zu legitimieren. Diese neue Formel der Repräsentation erkennt man am deutlichsten an der Höhe der Subventionssummen. Wer das Budget aller Wissenschaftsinstitute in Deutschland von Helmholtz bis Max Planck zusammenrechnete, käme auf Milliarden. Die Wissenschaft darf Grundlagenforschung machen, sie braucht keine Tourismusbusse und keine Blockbuster-Veranstaltungen und erhält trotzdem enorme Fördersummen. Die Kunst muss ZuschauerInnen und Medienpräsenz erzeugen. Sie hat kein Recht auf Grundlagenforschung.

Das CERN, die Europäische Organisation für Kernforschung in Genf, erhält von der Europäischen Union jährlich eine Milliarde für die Erforschung von Teilchen, die niemand sieht. So eine Lobby hat die Kunst nicht im Entferntesten. Aber dies ist gerade, was ich mir wünsche: dass die Kunst aufhört, sich als Schmuddelkunst der Gesellschaft anzubiedern. Die Kunst selbst muss aufhören mit ihren Clownerien, billigen Provokationen und ihrem Reduktionsprogramm, sie muss stattdessen beweisen, wie relevant ihr Beitrag für das Leben auf diesem Planeten ist.

Ich wünsche mir, dass der Staat diese Kunst genauso mit Millionen und Milliarden fördert, wie er die Wissenschaft fördert. Die Gründung zahlreicher Institute, in denen sich die Kunst neuen Aufgaben widmet, eben Grundlagenforschung auf technologischer Basis wie die Wissenschaft betreibt, wäre meine Antwort auf die Frage: Wo sehen Sie die größte Gefährdung der Kultur und wie kann man dem gezielt begegnen?

Dieser stagnierende deutsche Staat, dessen Rechtssystem nach jahrelanger Prozessdauer meist zu dem Ergebnis kommt, der Prozess möge eingestellt werden, dessen Bauvorhaben um ein Mehrfaches teurer und um ein Mehrfaches an Bauzeit länger werden als geplant, dessen Bildungssystem am Lehrermangel zugrunde geht, dessen Infrastruktur von Bahn bis Internet überfordert ist, gibt Millionen aus, um eine für die Umwelt und damit auch für Menschen gefährliche Schwindelindustrie, nämlich die Autoindustrie, immer wieder zu subventionieren und damit künstlich am Leben zu erhalten. Dieser deutsche Staat muss herausgefordert und buchstäblich zur Rechenschaft gezogen werden. Der Aufruf »Empört Euch!« von Stéphane Hessel ist dafür zu behutsam. Ein Generalstreik bis zum Hungerstreik würde zeigen, buchstäblich, wie sehr die Kultur, nämlich die Kulturschaffenden, ausgehungert werden.“

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