„Schockwellen – Tagebuch des Todes“: Chronik eines Doppelmordes auf Arte
Die Dramaserie „Schockwellen“ durchleuchtet vier wahre Kriminalfälle: In der ersten Folge ermordet ein Junge seine Eltern. Jetzt auf Arte.
Benjamin (Kacey Mottet Klein) sitzt nackt am Frühstückstisch und schaufelt apathisch Schoko-Cerealien mit Milch in sich rein. Mit dem Roller fährt er zur Post, dort lässt er sein Tagebuch an seine Französischlehrerin Esther Fontanel (Fanny Ardant) schicken, geht anschließend zur Polizei – und gesteht den Doppelmord an seinen Eltern. Die Schweizer Anthologieserie Schockwellen (ab sofort in der Arte-Mediathek) erzählt die Geschichte von vier wahren Kriminalfällen, deren ruhige Intensität einem schier die Sprache verschlägt. Diese Serie ist kein gemütliches Popcorn-Entertainment, sondern ein erbarmungsloser Blick in die menschlichen Abgründe.
„Schockwellen“: Ab sofort auf Arte und in der Arte-Mediathek
Die intelligente Esther Fontanel liebt die Literatur. Ein Tagebuchprojekt soll ihren Schüler:innen dabei helfen, die Lust am wahrhaftigen Schreiben zu entdecken. Doch als plötzlich die Polizei vor der Klassenzimmertür steht, Frau Fontanel von der schrecklichen Tat ihres Schülers Benjamin erfährt und gebeten wird, das Paket mit Benjamins Tagebuch im Beisein des Richters (Jean-Philippe Ecoffey) zu öffnen, findet das Projekt ein jähes Ende. Es entspinnt sich die furchtbare Chronik eines brutal geplanten Doppelmorders und das erschreckende Psychogramm eines einsamen jungen Mannes, der von Gewaltfantasien und dunklen Stürmen in seinem Schädel geplagt wird. Während Benjamin und Frau Fontanel abwechselnd aus dem Tagebuch vorlesen, verfolgen die Zuschauer:innen Benjamin, der für sieben Jahre ins Gefängnis muss und einen Suizidversuch überlebt, und Frau Fontanel, die von ihrem Schüler wider ihres Willens zur Verbündeten gemacht wurde und von der Justiz als Mittäterin behandelt wird. Sie ist die einzige Person, die Benjamin noch bleibt. Bei seinen Freigängen holt sie ihn ab, er schläft sogar ab und zu bei ihr.
Das unkonventionelle Pärchen wird gezwungenermaßen durch das unsichtbare Band der mörderischen Literatur zusammengehalten. Beide spielen die Nuancen der gegenseitigen Anziehung bei gleichzeitiger Scham herausragend, wobei die Serie den Zuschauer:innen stets genug Raum lässt, um selbst ein Urteil über die Situation fallen zu können. Die erste Folge von Schockwellen schlägt sich nie auf eine Seite: Dort ist der Richter als Symbol des Rechts und der Justiz, der keinen Versuch unternimmt, die inneren Kämpfe des Jungen zu verstehen, er sucht nach externen Gründen: Missbrauch, Schläge, Hass der Eltern. Auf der anderen Seite steht der Psychologe (Carlo Brandt), der Frau Fontanel betreut. Er versucht, sich dem Jungen emotional zu näheren, sieht einen ödipalen Vatermord und wirbt für Verständnis.
Neben dem eigentlichen Plot ist Schockwellen – Tagebuch des Todes auch eine Liebeserklärung an die Literatur, die sich – abgesehen vom Bild des leidenden Schriftstellers – größtenteils den treudoofen Geniegestus spart und hingegen einige interessante Fragen aufwirft: Dürfen wir abgründige Literatur überhaupt gut finden? Ist das geschriebene Wort getrennt von den Taten zu betrachten? Und was passiert, wenn sich Gedanken in Worte verwandeln? Befähigen sie zur Tat oder werden sie zum schützenden Damm vor der Katastrophe?