Schorsch Kamerun: Der Moment, in dem Kultur sein Leben verändert hat
Schorsch Kamerun von Die Goldenen Zitronen hat uns von seinem großen Vorbild als 15-Jähriger, seiner Liebe zum Situationismus und dem Moment berichtet, als Kultur sein Leben verändert hat.
„Als ich zum ersten Mal den Sex-Pistols-Sänger Johnny Rotten gehört habe, änderte sich alles für mich. Ich war 15, ein Freund brachte die Musik aus London mit, und wir haben sie am Timmendorfer Strand in seinem Keller gehört. Trotz aller Aggressivität der Pistols, laut zu brüllen und wütend zu sein, wie noch nie so gehört, sind die Ambivalenz der Verletztheit, Unsicherheit und der irritierende Nihilismus das Umwerfende.
„Ich bin über den Strand gerannt und habe geschrien: ,Anarchy! Anarchy in the UK!‘“
Gnadenlos unreflektiert, aber ultraelektrisiert, bin ich über den Ostseestrand gerannt und habe geschrien: „Anarchy! Anarchy in the UK!“ Ich wusste nicht wirklich, was genau das heißt, habe aber augenblicklich meine Genesis-, Supertramp- und Yes-, meine „Dinosaurier-Rock“-Platten auf dem Gehweg eliminiert.
Heute weiß ich, dass die Sex Pistols ein Stück weit eine Erfindung ihres Managers Malcolm McLaren und seiner Freundin, der Modemacherin Vivienne Westwood, waren. McLaren war Anhänger des Situationismus, einem Kunstkonzept-Denkmodell, das auch mich bis heute anleitet: Diese selbst ernannte Kommunikationsguerilla hat die „Gesellschaft des Spektakels“, die Aufmerksamkeitsökonomie, in der wir leben, visionär früh beschrieben.
Schorsch Kamerun: Deutscher Johnny Rotten?
Das hysterische Zetern und Spotten des Johnny Rotten hat mich richtig weggehauen und ich glaube, es ist deshalb so revolutionär, weil es wirklich ultrakomprimiert, aber auch tief komplex erzählt – egal, wie simpel es für manchen erscheinen mag. Die Sex Pistols haben alles weggewischt, was zu dieser Zeit im Raum und im Weg stand, den Bombast-Rock und die Zwangsjacke der über-ackernden Wirtschaftswunderspießer. Das funktionierte brillant durch den Duktus der irritierenden (Selbst-)Zerstörung.
Von mir gibt es einen zusammenhanglosen Schnipsel im Netz, der immer wieder auftaucht: Da sage ich, dass wir nur radikal ablehnen konnten, was uns als bescheuerter Daseinsentwurf vor die Nase gehalten wurde – und wollten dabei vielleicht auch „einfach nur saufen“. Das finden die Leute witzig, es ist aber als sinnrichtige Genervtheit gemeint: Nämlich als Provokationsansage, warum man aus dem hohl laufenden Leistungsdiktat der Nachkriegsgeneration komplett ausstieg. Dabei kam Punk als Fulltime- Entwurf einfach wunderbar erlösend für uns.“