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Stefanie de Velasco: Kein Teil der Welt

Cover

Mit dem zweiten Roman verarbeitet „Tigermilch“-Autorin Stefanie de Velasco ihre Jugend bei den Zeugen Jehovas. Doch „Kein Teil dieser Welt“ ist sehr viel mehr als ein Enthüllungsbuch.

Über Nacht wird die 15-jährige Esther aus ihrem bisherigen Leben gerissen: Kurz nach dem Mauerfall zieht sie mit ihren Eltern vom Rheinland in ein ostdeutsches Dorf, um dort die Lehre der Zeugen Jehovas zu verbreiten. Hier bauen sie einen neuen Königreichssaal, verteilen in der Fußgängerzone die Zeitschriften „Der Wachturm“ und „Erwachet“ und klingeln an Haustüren, um Bibelkurse anzubieten. Doch Esther vermisst ihre beste Freundin Sulamith, mit der sie in der alten Heimat alles geteilt hat. Dort gab es Probleme, weil Sulamith zunehmend an dem Glaubenssystem gezweifelt und sich in einen Jungen außerhalb der Glaubensgemeinschaft verliebt hatte. Während Esther herauszufinden versucht, was der Freundin zugestoßen ist, entfremdet auch sie sich immer mehr von den Zeugen Jehovas und stößt im Osten zudem auf einen Teil ihrer eigenen Familiengeschichte, den ihre Eltern vor ihr geheim gehalten haben.

 

Stefanie de Velasco Kein Teil der Welt

Kiepenheuer & Witsch, 2019, 432 S., 22 Euro

 

 

Stefanie, du bist bei den Zeugen Jehovas aufgewachsen und hast diese religiöse Gemeinschaft im Alter von 15 Jahren verlassen. Es überrascht im Nachhinein, dass du zunächst „Tigermilch“ veröffentlicht hast und die autobiografischen Erfahrungen erst jetzt in deinem zweiten Roman verarbeitest.

Stefanie de Velasco: Ich habe mich nicht gleich an diesen Stoff rangetraut, weil ich Angst hatte, dass es daneben geht. Bestimmt hätte ich etwas Autobiografisches à la „Mein Leben bei den Zeugen Jehovas“ schreiben können – nur hat mich das nicht so richtig interessiert. Ich bin jemand, der Figuren und Fiktionen braucht, daraus ziehe ich mir mein literarisches Adrenalin. Bei diesem Thema ging es mir vor allem um die weltliche Anbindung der Zeugen Jehovas. Zudem hat mich auch diese Form von zivilem Ungehorsam interessiert, die sie unter den Nazis und dann auch in der DDR geleistet haben. Sie sind auf eine friedliche Art und Weise für ihre Überzeugungen eingestanden. Gleichzeitig ist dieses System der Zeugen Jehovas aber wahnsinnig reglementiert und totalitär, wenn man darin aufwächst und dort lebt.

Jeder weiß von den Zeugen Jehovas, aber wie einengend dieses System ist, macht man sich als Außenstehender nicht wirklich bewusst. Auch, weil es kaum thematisiert wird.

Stefanie de Velasco: Wir lesen ja fast täglich in den Zeitungen von jungen muslimischen Mädchen aus sehr konservativen Familien, die nicht in den Schwimmunterricht dürfen. Aber auch bei den Zeugen Jehovas wächst man in extrem patriarchalen Strukturen auf. Es ist ein Männerverein, in dem die Frauen eigentlich gar keine Rechte haben. Bei den Zeugen Jehovas thematisiert die Mehrheitsgesellschaft nicht, dass die Kinder da auch in einer kompletten Parallelwelt aufwachsen – was ich rassistisch und ignorant finde. Ich wollte von einen weißen Fundamentalismus erzählen, der mitten unter uns ist. Zeugen Jehovas sind unauffällige, friedliche, nette Menschen. Deswegen wird verharmlost: Ja, die haben halt irgendwie eine Schraube locker. Aber bei denen groß zu werden, ist wirklich hochproblematisch.

Mit 15 da auszubrechen und gleichzeitig auch zu wissen, dass man die familiären Bindungen und alle Freunde verlieren wird, hinterlässt sicher Spuren, die dich vermutlich auch heute noch prägen.

Stefanie de Velasco: Man ist da so ein bisschen falsch geeicht. Wenn man so totalitär aufgewachsen ist, dann ist es unglaublich schwer, sich ein moderates Denken anzueignen. Ich neige schon zu radikalen Theorien. Extinction Rebellion und ziviler Ungehorsam à la Gandhi oder Thoreau: Alles, was so ein bisschen bekloppt ist, aber trotzdem Sinn ergibt, finde ich immer gleich großartig. Als Autorin profitiere ich meiner Meinung nach aber auch davon. Weil ich immer so ein bisschen außen vor bin, blicke ich anders auf die Welt. Es ist vielleicht keine schöne Position, aber gleichzeitig ist sie auch sehr luxuriös. Man sieht vielleicht schon Dinge, die andere noch nicht erkennen. Es war lange schwer, aber heute bin ich damit versöhnt, weil es eben auch toll ist, dass man von diesen bürgerlichen Strukturen so frei ist.

Die Zeugen Jehovas ignorieren ja in der Regel Kritik – oder denkst du, sie werden auf deinen Roman reagieren?

Stefanie de Velasco: Keine Ahnung, schauen wir mal. Eigentlich müssten sie ja glücklich sein, weil ich mal so richtig erzähle, was bei ihnen los ist. (lacht) Ich gebe ja eigentlich Zeugnis durch mein Buch, und ich könnte mir ganz viele Predigtdienststunden in meinen Dienstbericht schreiben.

Interview: Carsten Schrader

 

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