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T.C. Boyle: Sprachnachricht von Sam
Das Virus wütet weiter, und auch Trump ist noch längst nicht überwunden. Warum hält T.C. Boyle in seinem neuen Roman „Sprich mit mir“ ausgerechnet mit einem sprechenden Schimpansen dagegen?
Auf seiner Homepage war T.C. Boyle entlarvender Kommentator der US-Wahl bis hin zum Sturm auf das Kapitol, und er hat während des Lockdowns und der schlimmen Waldbrände in seiner kalifornischen Heimat an dem neuen Roman gearbeitet. Da wirkt es fast ein bisschen wie eine dringend notwendige Realitätsflucht, wenn T.C. Boyle mit „Sprich mit mir“ in die 70er- und 80er-Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückreist und die in jener Zeit so populären Experimente mit Tieren thematisiert. Der Psychologie-Dozent Guy Schermerhorn zieht den jungen Schimpansen Sam wie einen Menschen auf und bringt ihm Gebärdensprache bei. Nachdem die schüchterne Studentin Aimee einen Fernsehauftritt von Guy und Sam sieht, bewirbt sie sich bei dem Forschungsprojekt als Sams Babysitter – und zwischen ihr und dem Primaten funkt es sofort.
In „Sprich mit mir“ entwirft T.C. Boyle eine Dreiecksbeziehung mit dem Schimpansen Sam
Aimee wird Sams Bezugsperson, sie schläft mit ihm in einem Bett, liest ihm vor und belohnt ihn mit seiner Lieblingspizza. Dass Aimee auch eine Affäre mit Guy beginnt, erweist sich zunächst nur als geringes Problem. Doch zur Zerreißprobe kommt es, als die Stimmung in der Wissenschaft kippt und angezweifelt wird, dass Schimpansen eine Sprache entwickeln und Gefühle oder gar eine Seele haben. Sams Besitzer beendet das Experiment, er fordert den Schimpansen zurück und sperrt ihn in einen Käfig, um ihn für Tierversuche zu nutzen. Doch während Sam für Guy nur eine verpasste Karriereoption ist, befreit Aimee ihren Vertrauten und taucht mit Sam in einem Trailerpark in Arizona unter.
Unsere Verantwortung gegenüber der Natur und der nötige Respekt vor Tieren sind T.C. Boyles angestammte Themen – doch so eindringlich wie in „Sprich mit mir“ hat sie der 72-jährige Literaturpunk vielleicht nie zuvor verhandelt. Mit vielen tragischen Momenten baut Boyle eine kaum auszuhaltende Spannung auf, er flankiert den Plot mit Humor, Zitaten und Breitseiten gegenüber Wissenschaft und Medien, und mit viel Empathie blickt er in dem aus verschiedenen Perspektiven erzählten Roman auch immer wieder in Sams Kopf, wobei er in dessen Texten jene Wörter durch Großschreibung markiert, für die Sam eine Gebärde kennt. Und man muss nur an die momentanen Schachereien in Sachen Impfstoff denken – schon legt sich eine gegenwartsdiagnostische Folie über das vermeintlich eskapistische Abenteuer.
„Spricht mit mir“ folgt auf den Roman „Die Terranauten“ und die Erzählungen „Sind wir nicht Menschen“.