„Unter Wölfen“ von John Wray
Mit seinem sechsten Roman widmet sich John Wray dem Heavy Metal – und legt mit „Unter Wölfen“ eine überzeugende Szenestudie vor, die nur einen einzigen Makel hat.
„Unter Wölfen“ von John Wray ist unsere Buchempfehlung der Woche.
John Wrays sechster Roman handelt von Metal – aber das sollte Genrefremde nicht abschrecken. Wie in den besten Skizzierungen einer Szene geht es in „Unter Wölfen“ nicht vorrangig darum, welches Slayer-Album jetzt das beste ist (ich nominiere „South of Heaven“), sondern darum, warum diese Frage den Mitgliedern der Szene so wichtig ist. Und wer selbst jemals Teil einer Subkultur gewesen ist – egal welcher – der wird bei dem Roman des US-amerikanisch-österreichischen Autors seine helle Freude haben.
„Unter Wölfen“ ist da am besten, wo Wray die Verbindung seiner Protagonist:innen untereinander und ihren Platz in der Szene verwebt. Da ist Kip Norvald, dessen Vater im Gefängnis sitzt und dessen Mutter lange unerwähnt bleibt. Gerade in Florida angekommen, zieht er bei seiner Großmutter ein und wird allein schon dadurch zum Außenseiter, weil sonst in Venice Beach jede:r jede:n kennt.
Er freundet sich mit Leslie an, dem queeren, Schwarzen Adoptivsohn eines weißen, für die beiden unendlich alten Ehepaares, der ihn direkt ins kalte Wasser wirft, als er ihm die Debüt-LP von Death vorspielt. Die Band also, die vielleicht alleinig für die Genrebeschreibung Death Metal verantwortlich ist – Nerds streiten sich darüber immer noch. Hier sind sie jedoch noch nicht die wichtigsten Vertreter der Florida-Szene, sondern die Band des Cousins von jemandem, mit dem Kips Oma zur Kirche geht.
Von Leslie und seinem schier enzyklopädischem Wissen über Equipment und Diskografien und seinen fachmännischen Meinungen geleitet, wird Kip schnell zum Teil der Metalszene, wo er auch Kira kennenlernt. Leslie, der mit ihrem Gras dealenden Cousin schläft, attestiert diesem offenkundig traumatisierten Mädchen einen „waschechten Todeswunsch“ – und das ist die größte Schwäche von „Unter Wölfen“.
Die weibliche Figur wird zunehmend eindimensional
Es ist schade, dass Kira auf der Reise, die das Trio durchmacht, immer mehr zur Karikatur des beschädigten Mädchens wird, auf das alle Typen stehen. Für Kip und Leslie ergibt das Sinn, die beide auf ihre Art Kira verfallen, und sogar für die Metalszene generell, die auch heute noch ein gravierendes Frauenproblem hat. Nicht aber für einen Autor, der es sonst – auch und gerade in diesem Buch – so genau versteht, dreidimensionale Figuren zu schreiben. Als es das Trio nach dem Schulabschluss nach L.A. verschlägt, wird Kira zunehmend eindimensional: Während Kip quasi durch Zufall zum Musikjournalisten wird und Leslie einem Arschloch verfällt, das in einer Glam-Band spielt, geistert Kira als abgebrühte Szenebraut durch die Handlung. Ihre einzige Rolle besteht darin, in einer Bar zu arbeiten und eine Beziehung mit Kip anzufangen, die sie beide nach Europa führt und natürlich nicht funktioniert. Im dritten Teil, der sich nach Death und Glam Metal der norwegischen Black-Metal-Szene widmet, ist sie fast vollständig abwesend, denn natürlich müssen Kip und Leslie nach ihr suchen und sie retten.
Die selbstzerstörerische Sehnsucht nach etwas Echtem verbindet die Figuren aus „Unter Wölfen“ von John Wray
„Unter Wölfen“ ist ein pointierter Roman, in Zügen ist er sogar großartig, doch es bleibt der Wunsch, dass Wray diese Geschichte aus der Sicht von Kira erzählt hätte. Eine selbstzerstörerische Sehnsucht nach etwas Echtem verbindet Wrays Figuren, doch es ist Kira, die dieses Merkmal der Metalszene auf die Spitze treibt. Anders als bei Leslie und Kip erfahren wir allerdings viel zu wenig darüber, was Kira bewegt. Vielleicht weiß John Wray es selbst nicht genau.
Mit „Unter Wölfen“ hat es John Wray auf unsere Liste der besten Bücher im August 2024 geschafft.