„Walzer für Niemand“ von Sophie Hunger

In ihrem Debütroman „Walzer für Niemand“ führt die Berner Musikerin Sophie Hunger eine frühere musikalische Erzählung aus und beschreibt abstrakt-poetisch, wie Musik sich in jeder Faser des Lebens widerspiegelt.
Es ist 17 Jahre her, dass Sophie Hunger auf ihrem zweiten Album „Monday’s Ghost“ einen Song über Niemand geschrieben hat. Wunderbar verwoben in allem und nichts erzählt ihr „Walzer für Niemand“ von einem schwer greifbaren und doch so unmittelbar nahem Gegenüber, das untrennbar verbunden mit dem eigenen Leben ist. Niemand sitzt mit am Frühstückstisch der Erzählerin, kennt all ihre Gedanken, bekommt all ihre Aufmerksamkeit – und ist doch dauerhaft betont distanziert.
Die Ausführung des „Walzer für Niemand“
Zahlreiche Musikpreise, Alben und weitere Meilensteine später haucht Hunger ihrem Song gewissermaßen neues Leben ein, diesmal aber in weitaus mehr als bloßen 2:28 Minuten. Die Schweizerin weitet die Darbietung über Niemand und ihrer Erzählerin in ihrem Debütroman aus, betitelt diesen konsequenterweise dem vorausgegangenen Song nach und gibt weiteren Aufschluss über die so rätselhafte wie untrennbare Verbindung zwischen den beiden. Zentral dabei: die Musik, die sich ab dem Moment der Geburt wie eine Leitlinie durch ihr Leben zieht. Es gibt auf den nächsten 181 Seiten kaum eine, in der Hunger nicht eine musikalische Referenz in Formen von Songzeilen, musiktheoretischen Anspielungen oder einfachen Vergleichen zu Tönen, Melodien, Plattenspielernadeln und Minidiscs macht.
Einfach überall steckt Musik drin, wenn Hunger beinahe collagenhaft vom Aufwachsen der besten Freunde Niemand und dem erzählenden Mädchen berichtet. In einer Szene etwa werden die Länder in den alten Atlanten des Vaters neu benannt, doch nicht so, wie es ein Trump gerne tun würde, sondern mit New Björk als neues Island oder den nun in der Fantasie umbenannten Vereinigten Staaten von Tocotronic. In einer anderen erklären sie sich ihnen unbekannte weltliche Phänomene anhand musikalischer Vergleiche:
„Die Töne schwemmten den Salon wie eine nordische Flut. Wie sollten wir das wissen? Wir kannten keine nordische Flut. Doch doch, die Töne schwemmten weiter den Salon wie eine nordische Flut.“
Musik. Überall ist Musik!
Überhaupt zieht sich ihre musikalische Sozialisation quer durch ihre Erzählweise. Fragment- und bildhaft wechselt die Debütautorin in ihren kurzen Kapiteln zwischen kleinen Erzählungen quer durch das Coming of Age, ähnlich wie bei Songs eines Albums. Auch inhaltlich folgt die Geschichte „Walzer für Niemand“ dem gelegten Grundton und lässt die Erzählerin eine musikalische Karriere verfolgen. Doch während sie sich immer weiter in Richtung eigene Songs schreiben, Plattenvertrag und Live-Auftritten im Bataclan aufmacht, verliert sich Niemand zunehmend in der Volkskunde der Walser:innen. Der alpine Volksstamm, dem Sophie Hunger im Übrigen auch entstammt, wird im Roman durch immer wieder zwischengeschobene Minikapitel beleuchtet und zunehmend in die Geschichte selber transportiert, bis es zu unweigerlichen Rissen in der engen Bindung kommt.
In ihrem Debütroman verschwimmen Sophie Hunger als Songwriterin und Sophie Hunger als Autorin. Ihre oft so dicht gehaltenen Lyrics transferieren sich ungemein gut zu einem poetischen Schreiben auf Romanlänge, die von einer raffinierten und vielschichtigen Erzählweise lebt. Sie spricht mit dem dauerhaften Du eigentlich Niemand an, doch durch dessen Ungreifbarkeit werden wir Lesenden mindestens genauso sehr adressiert. „Er hat Lieblingslieder, ein Lieblingsbuch, ein Lieblingsessen, er hat eine bestimmte Art von Schuhen, er hat einen bestimmten Gang, er hat ein bestimmtes Äußeres. Aber er ist eben auch Niemand“ beschreibt Hunger lächelnd ihren Gedankenprozess beim Beschreiben von Niemand. Es ist diese Abstraktheit in der Sprache, die sie auch schon vor 17 Jahren im Songwriting wie keine zweite beherrscht hat, die ihr Debüt als Autorin nun so erscheinen lassen, als ob sie diese Kunstform ebenso lange beherrschen würde.