Dark Academia in „Freundschaft und Vergeltung“ von Helmut Krausser
Helmut Kraussers 19. Roman gehört zum Genre „Dark Academia“. Was kann man sich darunter vorstellen?
Der Sommer neigt sich dem Ende und die Zeit der gemütlichen Lesemonate beginnt. Das passt gut, denn keine Jahreszeit ist so geeignet für das „Dark Academia“-Genre wie der Herbst. Wer sich wundert, was „Dark Academia“ genau bedeutet, ist vermutlich nicht auf Kanälen wie BookTok (TikTok für Buchinhalte) oder Bookstagram (das Gleiche auf Instagram) unterwegs, denn dort hatte das Phänomen seine Anfänge.
Was ist eigentlich „Dark Academia“?
Geschichten mit der „Dark Academia“-Ästhetik versuchen sich an einer Romantisierung von Bildungsstätten: oft spielt die Handlung an Schulen, Universitäten oder in Bibliotheken. Schuluniformen tragen natürlich auch zu dem Flair bei, da sie den visuellen Faktor liefern, der die Schule von anderen Settings unterscheidet. Das Augenmerk liegt oft auf einer Freundesgruppe, da das zu Reibungen zwischen den einzelnen Figuren führen kann.
Außerdem steht der Wissenserwerb im Vordergrund, jedoch wird der Lernalltag durch ein Mysterium unterbrochen, welches es zu lösen gilt. Die Romane spielen oft zur kälteren Jahreszeit, weshalb sie etwas düster daherkommen. Ein Paradebeispiel für „Dark Academia“-Literatur ist Donna Tartts „Die geheime Geschichte“. Aber auch Klassiker wie Mary Shelleys „Frankenstein“ werden häufig zitiert, da sie das akademische Thema mit einer Gothic-Atmosphäre verbinden.
Warum aber ist diese Nische so spannend? Soziale Medien, insbesondere TikTok, mischen den Buchmarkt ordentlich auf. In größere Buchhandlungen stapeln sich mittlerweile die Buchtitel auf den designierten BookTok-Tischen. Junge Menschen teilen ihre Lesegewohnheiten auf Kurzvideoplattformen, wobei auch ältere Buchtitel (wie Tartts „Die geheime Geschichte“) eine Renaissance erleben. Der Einfluss dieser jungen Leseströmungen ist also nicht zu unterschätzen und die Subgenres, die hier entstehen, haben demzufolge einen großen Einfluss auf die Literaturwelt.
Aber „Dark Academia“ geht auch über das Lesen hinaus: Es ist fast schon eine Subkultur, die sich zum Beispiel im Kleidungsstil wiederfindet. Lange, karierte Mäntel und Kleidungsstücke, die Schuluniformen ähneln, finden hier Anklang. Kurz gesagt kleidet man sich so, dass man im „Club der toten Dichter“ nicht auffallen würde. Grund genug, sich das Faszinosum einmal genauer anzuschauen. Passenderweise hat Bestsellerautor Helmut Krausser im Sommer einen Roman veröffentlicht, der das „Dark Academia“-Genre ganz gut einfängt.
Fallbeispiel: Helmut Kraussers „Freundschaft und Vergeltung“
Der Murder-Mystery-Roman „Freundschaft und Vergeltung“ von Vielschreiber Helmut Krausser erschien im Juli 2024. Es geht um das englische Jungeninternat Raven Hall, an dem im Jahr 1965 vier Personen spurlos verschwinden. Da jegliche Hinweise fehlen, verwandelt sich der Fall schnell zu einem Cold-Case.
Ex-Anwalt Anthony Brewer, der zu der Zeit des Verschwindens die Schule besuchte, kann das Mysterium nicht hinter sich lassen. Er legt nun alles daran, den Fall noch viele Jahre später lösen. In seinem mittlerweile neunzehnten Roman begibt sich Krausser in die Gefilde der „Dark Academia“ und schafft damit etwas, was junge Menschen begeistern könnte.
Der Roman ist in drei Teile geteilt. Der erste Teil nutzt Tonbandaufnahmen von Zeugen und Zeuginnen, Briefe der Beteiligten und Tagebucheinträge, wodurch er ein lebhaftes und kurzweiliges Bild von der Zeit in Raven Hall zeichnet. Im Zentrum der Handlung stehen die junge, hübsche Lehrerin Deborah Rogers und der Schüler Chris Bradshaw. Deborah hatte vor Beginn des Schuljahres eine Affäre mit John Bradshaw, Chris’ steinreichem Vater.
Die Liaison endete in einer Abtreibung und einer großzügigen Spende an das Raven Hall Internat. Wie bei einem Puzzle werden den Leser:innen Informationsfetzen vorgelegt, die sich am Ende zu der Lösung des Falls zusammensetzen sollen. Dieser Teil des Romanes profitiert stark von seinen gelungenen Perspektivwechseln. Welcher Figur kann man glauben? Welche Person hat Grund zu lügen? Welche Informationen führen zu der Lösung des Falles und welche ins Nichts?
Ein diverses Ensemble – oder nicht?
Nicht alle der Figuren sind sympathisch – im Gegenteil. Aber genau dadurch werden sie erst richtig spannend. Chris, der immer bereit ist, Unfug zu stiften, versteht es, andere Menschen wie Marionetten tanzen zu lassen und Deborah, die man zu Beginn als Opfer ihrer Umstände wahrnimmt, hat vielleicht doch mehr Manipulationskraft als man anfangs denkt. Die Dynamiken zwischen den Figuren sind von Anfang an nicht ganz greifbar. Als Leser:in taucht man immer weiter in die Geschichte ein und möchte verstehen, was wirklich vorgefallen ist.
Dabei lebt der Roman von der Atmosphäre, die er kreiert. Und die passt genau auf die Schablone, die auf BookTok gut ankommt: ein elitäres Internat in England (Schuluniformen inklusive). Chris Bradshaw ist schlauer als er zunächst zu sein scheint, was den Faktor des Wissenserwerbs in die Geschichte bringt.
Er erzählt seiner Freundesgruppe viel von Nietzsche und Shakespeare und beschäftigt sich mit Okkultismus. Das Rätsel der verschwundenen Personen bringt eine Portion Mystery mit ins Spiel. Dass die Handlung im tiefsten Winter spielt, verschafft dem Roman schließlich die letzte Prise düstere Gemütlichkeit.
Der restliche Roman spielt, im Jahr 2015. Nun ist Anthony frisch im Ruhestand und möchte seine neugewonnene Zeit nutzen, um die ungeklärten Fragen zu beantworten. Der ehemalige Anwalt sucht nach Strohalmen, nach denen er greifen kann und hangelt sich von einem Hinweis zum nächsten. Manchmal mit Erfolg und oft ohne. Hier wird der Roman stark entschleunigt.
Anthonys Obsession mit dem Mysterium beginnt Überhand zu nehmen und er droht, sich darin zu verlieren. Auch das ist ein oft genanntes Merkmal von „Dark Academia“-Romanen: die Hyperfixierung auf ein intellektuelles Interessensgebiet, das die Gefahr birgt, die Psyche jener Figur zu zerstören.
Gelegentlich hinterfragt Anthony seine Besessenheit mit dem Raven Hall-Fall und überlegt, warum er nicht loslassen kann. Hat er Chris geliebt? Oder Deborah? Und auch die Verstrickungen um die verschwundenen Personen lösen sich langsam. Am Ende liefert der Roman Antworten. Ob sie zufriedenstellend sind, muss jede:r für sich selbst entscheiden. Das Leseerlebnis ist jedoch ein spannendes, denn man möchte dem Mysterium auch auf den Grund gehen. Man fliegt von Seite zu Seite, um zu erfahren, was mit den verschwundenen Personen geschah.
Funktioniert die „Dark Academia“-Formel auch auf Deutsch?
Mit „Freundschaft und Vergeltung“ schafft Helmut Krausser einen deutschsprachigen Roman, der sich in das „Dark Academia“ Genre einreiht. Auffällig ist dabei, dass der Roman, trotz des deutschen Autors, nicht in Deutschland spielt. Der Schauplatz von „Dark Academia“ Romanen befindet sich nämlich in den meisten Fällen entweder in den USA oder in Großbritannien.
Das ist auch einer der größten Kritikpunkte an dem Genre. Die beschriebenen Universitäten sind wegen der hohen Studiengebühren oft nicht für alle Personen zugänglich, wodurch ein Elitismus propagiert wird. Außerdem sind diese Romane oft nicht sehr divers, weshalb sie auch in ihrer Repräsentation exklusiv sind.
Es stellt sich also die Frage, ob die Exklusivität für das Genre unabdingbar ist und ob ein Standortwechsel an eine deutsche Universität oder Schule weniger attraktiv zu lesen sei. Zuletzt war die „Maxton Hall“-Buchreihe der Hamburger Autorin Mona Kasten, die ebenfalls an einer Eliteschule in Großbritannien spielte, ein großer BookTok-Erfolg.
Ob es der Eskapismus in eine Welt der Schlauen und Reichen oder lediglich ein Erfreuen an alten Bibliotheken und verstaubten Ledereinbänden ist – „Dark Academia“ ist aus den Bücherregalen junger Leser:innen kaum mehr wegzudenken.