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Wolf Biermann: „Die sind nicht meine Museumswächter!“

Wolf Biermann by Jonas Albrecht
Wolf Biermann (Foto: CloudsHill / Jonas Albrecht)

Liedermacher Wolf Biermann ließ seine Lieder erstmals covern – mit Erfolg. „Re:Imagined – Lieder Für Jetzt!“ ist von großer musikalischer Bandbreite, was auch beim Releasekonzert im Hamburger Thalia-Theater zum Ausdruck kam. kulturnews sprach mit Wolf Biermann.

Wolf Biermann, ich habe zur Vorbereitung auf unser Interview in den Podcast reingehört, den Sie letztes Jahr für die Wochenzeitung Die Zeit bestritten haben.
Wolf Biermann: Haha! Ich hab da nie reingehört!

Siebeneinviertel Stunden ist der lang. Und der Gast bestimmt in diesem Podcast, wann Schluss ist.
Biermann: Na, das war reiner Sport.

Sie sind ganz offensichtlich immer noch die alte Rampensau.
Biermann: (kurzes Zögern, dann entschieden) Ja! Das gebe ich selbstkritisch zu.

So negativ habe ich das jetzt gar nicht gemeint, Herr Biermann!
Biermann: Nein nein, ich versteh das schon, das ist ja im Grunde ein lobendes Spottwort.

Doch zur Sache. Wir führen das Interview zwei Tage vor den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen, Brandenburg wird folgen, die Prognosen sind katastrophal. Was überwiegt bei Ihnen: Angst, Zorn oder die Gewissheit, dass unser System sich einer Aushöhlung des Rechtsstaates durch rechtsradikale Kräfte doch widersetzt?
Biermann: Ich erlebe – jetzt zum ersten Mal in meinem Leben – das Elend der Demokratie. Vorher erlebte ich das Elend der Diktatur in der Nazizeit und das Elend der Diktatur in der DDR-Zeit. Da bin ich sozusagen Fachmann. In der Demokratie aber bin ich der Neue, der dazu gekommen ist, wie Sie wissen.

Aber schon vor langer Zeit.
Biermann: Schon vor langer Zeit, aber: Ich erlebe zum ersten Mal das tiefe Dilemma jeder Demokratie, die den fatalen Fehler hat, dass man (die Stimme kippt wie meist bei einer Pointe Biermanns) leider gewählt werden muss, wenn man etwas bewirken will in dieser Gesellschaft. Und wenn ich Bob Dylans Losung „The Times are A-Changing“ bedenke: Die Zeiten ändern sich, oder dasselbe auf Brecht-Deutsch: Es wechseln die Zeiten, da hilft kein‘ Gewalt – „Das Lied von der Moldau“ –, dann fällt mir plötzlich ein: Jaja! Natürlich wechseln die Zeiten! Aber sie können auch zum Schlechteren wechseln! Und nicht immer zum Besseren! Denn in der Demokratie können leider auch Antidemokraten gewählt werden, die die Demokratie abschaffen wollen. Das erleben wir gerade.

Sarah Lesch und Max Prosa coverten Biermanns Song „Ermutigung“ schon im Jahr 2020.

Sind Sie besorgt oder …
Biermann: (unterbrechend) Ja! Bin ich, natürlich! Weil ich sehe, dass Deutschland voll im Trend der Menschheit liegt. Das ist kein Einzelweg, sondern voll in der Richtung zu mehr Unfreiheit, zu mehr Unterdrückung. Madeleine Albright, die vor zwei Jahren verstorbene frühere Außenministerin der USA, deren Buch ich gerade gelesen habe über dieses Problem, nennt das einfach Globalfaschismus, faschistische Tendenzen in verschiedenen Kostümen und Versionen natürlich. So vielfältig wie die Menschheit sind auch die Formen des Faschismus. Von der chinesischen turbokapitalistischen Version bis zu Putins Totaldemokratie. In Deutschland droht ebenfalls eine Entwicklung zum Faschismus, es gibt deutliche Schritte in diese Richtung, eben in deutscher Version. Und das besorgt mich.

Sie wurden 1976 aus der DDR ausgebürgert, ein damals beispielloser Vorgang, allerdings konnten Sie nach Hamburg und damit in Ihre Geburtsstadt umziehen. Wo fühlten Sie sich danach und bis heute zu Hause: Berlin oder Hamburg?
Biermann. Das ist in meinem Fall noch komplizierter, denn ich verließ meine Vaterstadt Hamburg, um mit 16 Jahren, wie Sie wissen, in den Osten zu gehen. Für mich gesehen war die DDR damals mein Vaterland, das Land meines Vaters, wo ich doch lernen wollte, wie man (Biermanns Augen beginnen zu blitzen) den Kommunismus aufbaut und die Menschheit rettet! Das war ein Wunsch meiner Mutter, den kleinen Gefallen wollte ich ihr tun. Ich wunderte mich damals, dass mir so viele Menschen entgegenkommen. Ich muss Ihnen aber sagen: Dieser Entschluss war wahrscheinlich das Beste, was ich in meinem ganzen Leben gemacht habe.

Wolf Biermann: Lernen, wie man den Kommunismus aufbaut

Diese Erfahrung, in der DDR zu leben?
Biermann: Ja. Ich! Andere nicht. Ich brauchte die Erfahrung, in der DDR zu leben. Wenn ich in Hamburg geblieben wäre, wär ich ein Funktionär der stalinistischen kommunistischen Partei geworden. Schrecklich. Und wäre heute wahrscheinlich bei Gysis Linken oder bei Sahra Wagenknechts Firma BSW. Also, ich wäre nicht der Biermann geworden, der ich bin. Denn nur durch das Leben in der DDR und die Begegnung mit dem Brecht-Theater Berliner Ensemble und nur durch das Studium der Philosophie und Mathematik an der Humboldt-Universität bin ich ja überhaupt auf die Idee gekommen, Lieder und Gedichte zu schreiben. Ich bin nämlich kein geborener Dichter. Ich komme nicht aus einer Familie, die den Ehrgeiz hatte, dass der kleine Wolf ein Dichter wird.

Bonapartes Coverversion von Wolf Biermanns „Ermutigung“.

Und dennoch lief alles ganz anders, und jetzt gibt es zum ersten Mal ein Album voller Coversongs, wagte man sich überhaupt an Biermann ran. Ich dachte immer: Biermann klingt wie Biermann, anders geht es gar nicht.
Biermann: Ja! Ich kann mir meine Lieder, wie Sie schon dunkel ahnen, auch nicht anders vorstellen, aber … (lacht laut los)

Wie war es, als Sie Ihre Lieder in die Freiheit entließen? Und diese Lieder an unterschiedlichste Künstlerinnen und Künstler verschiedenen Alters und völlig unterschiedlicher Genres übergaben?
Biermann: Ich sage Ihnen die Wahrheit: Ich habe sie nicht in die Freiheit entlassen. Sondern meine Frau Pamela.

Und Ihre Frau hat sich wie durchgesetzt, etwa auf den Tisch gehauen?
Biermann: Nein, das hat sie nie. Nein, sie sagte: Weißt du, Wolf, die ganz jungen Leute kennen diesen Wolf Biermann überhaupt nicht! Und du hast so schöne Lieder geschrieben, die so gut zu gebrauchen sind, auch für den Streit in der Welt, den wir jetzt gerade haben. Es wäre doch dumm, wenn sich die jüngeren Generationen diese Lieder nicht aneignen und zunutze machen. Und das kannst du nicht, das müssen die Jungen machen. Deshalb hat sie sich mit dem Johann Scheerer getroffen und mit ihm dieses Projekt in die Welt gesetzt. Genauer gesagt: Nicht sie, sondern er hat das gemacht. Er hat die Leute ausgesucht, die ich, wie Sie sich denken können, nicht mal dem Namen nach kannte.

Und ich wollte Sie als nächstes fragen, welche Namen Sie denn ausgewählt …
Biermann: (unterbricht mit schallendem Gelächter) Mein Verdienst an dem ganzen Projekt besteht darin, dass ich mich absolut nicht eingemischt habe in meine eigenen Angelegenheiten. Ich habe nicht gestört durch meine Empfindlichkeiten, durch meine Eitelkeit, durch meine Wünsche, durch meine Vorschläge, sondern habe nur gesagt: Der Scheerer ist ein kluger Mann. Und er ist schön jung. Und trotzdem mit allen Wassern gewaschen in diesem Metier. Der kann das beurteilen.

Es fiel Ihnen offensichtlich nicht schwer loszulassen.
Biermann: Nein! Nein! Im Gegenteil, es fällt mir leicht! Und es freut mein Herz, dass es diese jungen Leute gibt, und jeder sich das nimmt, was er braucht! Und missversteht auch, wie er es braucht. Die sind ja nicht die Museumswächter für Herrn Biermann. Die haben vielmehr das Menschenrecht und sogar die Künstlerpflicht, es so misszuverstehen, wie sie es wollen. Und das gelang nur deshalb, weil ich sie dabei nicht gestört habe.

Wolf Biermann mit „Ermutigung“. Die Aufzeichnung ist vom legendären Konzert 1976 in Köln, das zu Biermanns Ausbürgerung aus der DDR führte.

Jetzt wurde meine nächste Frage obsolet, ich wollte nach dem Vertrauensverhältnis zur Künstlerjugend fragen.
Biermann. Ach, ich weiß, dass die Zeiten sich ändern und die Moden sich ändern, dass aber die menschliche Substanz eines guten Gedichtes oder einer schönen Melodie, einer starken Musik länger hält als ein Menschenleben. Und diese Substanz muss ja nicht abnehmen, nur weil ich ein bisschen älter werde.

Was passierte in und mit Ihnen, als Sie die Cover-Songs zum ersten Mal hörten?
Biermann: (stöhnt)

Sagen Sie jetzt bitte nicht, dass Sie sie noch nicht gehört haben!
Biermann: Doch, natürlich. Und wie Sie schon dunkel ahnen, war mir das alles ziemlich fremd. Und sehr nah zugleich. Einige der Interpretationen gefallen mir sehr gut, andere nicht so. Aber ich (wird energisch) misstraue mir! Ich misstraue meiner eigenen Urteilskraft. Weil ich doch ein alter Sack bin! Ich werde jetzt 88, das heißt, ich bin in Sinne der Jugend überhaupt nicht kompetent. Und noch aus einem anderen Grund bin ich nicht kompetent: Weil es mir zu nahe geht.

Ihre Einschätzung ist also keine reine Kopf-, sondern auch eine Herzenssache.
Biermann: Natürlich. Ich dachte an einen Vers von Heinrich Heine im Atta-Troll-Poem, das er zwei Jahre vor dem Wintermärchen geschrieben hat. Den Vers „Andre Zeiten, andre Vögel! Andre Vögel, andre Lieder! Und sie gefielen mir vielleicht, wenn ich andre Ohren hätte!“ Ich erinnerte mich an den Vierzeiler, weil er für mich und für dieses Projekt überhaupt nicht passt. Deshalb schrieb ich mir: “Andre Zeiten, andre Vögel! Singen meine alten Lieder. Das gefällt mir, weil mir wachsen endlich nun mal neue Ohren!“

Juse Ju und Wolf Biermann: „Das Ende des Zynismus“

Aber nicht unbedingt das Ergebnis?
Biermann: Mir gefällt, dass sie es tun, und ob es gelungen ist, sollen die beurteilen, die es hören, übrigens genauso, wie dann, wenn ich sie singe.

Ich nenne trotzdem mal zwei Namen. Wolfgang Niedecken bekundete schon vor rund 15 Jahren in einem Interview seine Verbundenheit mit ihrem Werk. Er ist also nicht von ungefähr auf dem Cover-Album vertreten. Und der Schweizer Liedermacher Bonaparte hat mit „Ermutigung“ das Lieblingslied seines Vaters eingespielt, der mit Ihrem Werk sehr vertraut ist. Da Sie die meisten Künstler gar nicht kennen, werden Sie auch nicht um diese Verbindungen wissen.
Biermann: Stimmt. Ich kenne weder ihre Namen noch ihre Lieder. Ich lebe ja in einer ganz anderen Blase und freue mich, dass sie genommen haben, was sie brauche können. Den Niedecken aber habe ich manchmal getroffen, den schätze ich sehr. Wir haben einen gemeinsamen Kollegen, den wir bewundern, das ist Bob Dylan. Es freut mich besonders, dass der ein Lied ausgesucht hat, das auch mir sehr gefällt: „Und als wir ans Ufer kamen / Und saßen noch lange im Kahn“ mit der Refrainzeile: „Ich möchte am liebsten weg sein / Und bleibe am liebsten hier“. Beides am liebsten, nicht etwas mehr und etwas weniger. Dieses Dilemma, dass man sich nicht entscheiden kann, was man lieber will, ist etwas, was viele, viele Menschen auf der Welt kennen.

Auch bei Ihnen nach der Ausbürgerung?
Biermann: Das war auch immer der Streit in der DDR zum Beispiel unter uns jungen Leuten damals: Abhauen oder dableiben? Widerstehen oder sich davonmachen? Beides hat gute Gründe. Beides ist ein Menschenrecht! Ich gehörte damals mit meinem Freund Robert Havemann zu den sogenannten Dableibern, deswegen freue ich mich, dass in dieser Sammlung durch Niedecken auch das Lied über dieses Problem vertreten ist. Aber auch ein anderes über den Sohn von Havemann, der abgehauen ist, was uns damals nicht nur nicht gefiel, sondern was uns ärgerte. Was uns weh getan hat. Was für uns eine Niederlage war im Streit gegen die Bonzen der DDR-Diktatur. Die waren froh, dass sie diese jungen Leute endlich los sind, und wir waren unglücklich über ihre Flucht in den Westen.

Nicht nur Bonaparte hat „Ermutigung“ neu eingespielt, auch Sie selbst bringen jetzt eine neue Einspielung heraus.
Biermann: Ja, mit meiner Frau Pamela habe ich es gesungen, es ist sehr schön geworden, außerdem mit den Jazzern, mit den Free-Jazz-Heroen der DDR-Zeit: Günter Baby Sommer, der Trommler, und der Jazzpianist Uli Gumpert, die heute international bekannte Musiker sind. Mit denen gemeinsam habe ich schon damals in der DDR – aber heimlich! – musiziert. Auftreten konnten wir zusammen nicht, ich war ja verboten. Auch die Aufnahmen mussten wir heimlich machen. Jetzt haben wir bei gemeinsamen Konzerten auch dieses Lied gesungen.

Alligatoah mit seinem Coversong von „Hugenottenfriedhof“.

„Ermutigung“ ist auch für Sie eines Ihrer wichtigsten Lieder. In der neuen Box sind meines Wissens alleine acht unterschiedliche Einspielungen versammelt, auch die „Kleine Ermutigung“ und die „Große Ermutigung“ sind vertreten.
Biermann: Ich habe damals diese drei Ermutigungen aufgenommen. Berühmt, populär wurde die mittlere „Ermutigung“, und nun – das freut mich besonders – habe ich hier in diesem Studio, in dem wir uns gerade befinden, als alter Mann eine „Späte Ermutigung“ eingespielt, die dank Scheerer mit auf der Platte ist.

Es können aber erstmals auch verschollene Perlen aus Ihrem Fundus heimlich in der DDR aufgenommener Lieder gehört werden: „Enfant perdu“ und „Die Ballade vom Hugenottenfriedhof“ hatten Sie gemeinsam mit dem Bandleader und Jazzer Klaus Lenz eingespielt hatten. Wie konnte es sein, dass berühmte DDR-Musiker damals, als sie absolut verboten waren, heimlich gemeinsam mit Ihnen Lieder aufnahmen?
Wolf Biermann: Wir waren Freunde. Und diese Jazzer (Biermann spricht das Wort immer deutsch aus) waren nicht ganz so feige wie die Schriftsteller. Die mehr darüber nachdachten, ob sie sich das leisten können oder nicht. Die Jazzer waren schon als Musiker weniger ängstlich. Weniger schlau. Zum Glück. Und der Lenz, ich habe ihn und seine Frau Gaby gerade besucht, der hatte eine Bruchbude, eine völlig abgerockte Klitsche in einem Schrebergartengebiet am Rande von Ostberlin. Da gab es nur einen Raum, eine Küche und ein Klo. Dort haben wir aufgenommen. Ich hatte ein professionelles Revox-Gerät – das hatte mir einer vom Spiegel rübergeschmuggelt. Und dann haben wir dort in dieser Schrebergartenkiste die Aufnahmen gemacht. Das war natürlich ein Heidenspaß für uns. Mit ein bisschen Angst, das können Sie sich ja vorstellen. Wenn ein bisschen Angst dabei ist, ist der Spaß noch größer.

Nur veröffentlicht wurden die Lieder nicht.
Wolf Biermann: Neeiiin! Gar nicht dran zu denken! Und dann habe ich die Bänder in meinem Archiv deponiert, und vergesse sie! Ich hatte doch neue Esel zu kämmen! Ich musste doch andere Sachen machen! Ich bin doch nicht mein eigener Archivar! Kurz und gut, ich habe die Bänder vergessen, meine Frau Pamela hat sie gefunden. Und sagte: Mensch Wolf, das ist ja ne Sensation! Dass ihr dort unter diesen Bedingungen mit den Jazzern diese Aufnahmen gemacht habt! Wenn das nicht Widerstand im allerbesten Sinne ist, im allerproduktivsten und fröhlichsten Sinne!

Maxim mit seinem Cover „Bilanzballade im dreißigsten Jahr“.

Ich habe jetzt eine persönliche Frage und muss dafür etwas ausholen. Die Aufnahmen stammen ungefähr aus dem Jahr 72 oder 73. Im Jahr 1965 wurden Sie auf dem 11. Plenum des ZK der SED verboten. Hatten ab da sowohl Auftritts- als auch Publikationsverbot. Auf dem gleichen Plenum wurde auch der Roman „Rummelplatz“ des Schriftstellers Werner Bräunig nicht zur Veröffentlichung freigegeben. Der Mann ist daran zerbrochen. Wie kommt es, dass Menschen so unterschiedlich sind? Der eine zerbricht, und Sie …
Wolf Biermann: Weil ich großes Glück hatte. Man muss die richtigen Freunde haben – und auch die richtigen Feinde. Man muss begreifen, dass die Feinde, die man hat, wirklich Feinde sind. Damit man überhaupt den Mut hat, gegen sie zu kämpfen, und sich nicht immer selbst lähmt. Vor allem aber, und das muss ich Ihnen als Westmensch erklären: Wenn ich nicht durch Zufall der Geburt aus einer Kommunistenfamilie gekommen wäre, dann wäre ich auch eines der Nazikindern gewesen, die ja in der Mehrheit waren, denn 90 Prozent der Bevölkerung waren ja Heil-Hitler-Deutsche, das darf man nicht vergessen! Und deren Kinder waren auch nicht dümmer als ich und eigentlich auch keine Feiglinge. Anständige, gute Menschen. Aber im Streit mit den Bonzen der Parteidiktatur waren sie immer gehandicapt. Waren sie immer eingeschüchtert. Weil sie sich schämten für ihre Eltern und beweisen wollten, dass sie keine Nazis sind. Im Streit der Welt waren sie immer in der unangenehmen Lage, halb gelähmt zu sein durch die Scham und das Wissen um die Verbrechen ihrer Eltern. Ich aber, mit der ganzen Frechheit des rechtmäßigen Erben, sagte: „Ich bin der Kommunist! Und ihr, Genossen, seid Antikommunisten!“ Und soll ich Ihnen die Wahrheit sagen: Das ist eigentlich gar nicht mein Charakter. Ich bin eigentlich eher sanft und etwas ängstlich.

Ach, Herr Biermann!
Wolf Biermann: Ja, doch doch doch. Ich weiß, dass Sie nicht dieses Bild haben können, weil ich in diese Heldenrolle reingeraten bin. Aber: Es ist umso interessanter, dass so ein Charakter wie ich durch die geschichtlichen Umstände da reingeraten musste! Ich sagte den Bonzen der Partei: Ihr schlagt meinen Vater, den die Nazis in Auschwitz ermordet haben, jeden Tag noch mal neu tot, ihr Schweinehunde. Und das ist ne ganz andere innere Haltung, eine ganz andere innere Festigkeit auch im Streit. Das kommt aber nicht aus meinem Charakter, das kommt aus meiner zufällig entstandenen Lebenssituation.

„Am Alex an der Weltzeituhr“: Haiyti mit ihrem Biermann-Cover.

Man muss die richtigen Freunde haben – und die richtigen Feinde

Sie hatten in diesem Punkt viel Glück.
Wolf Biermann: Ich habe genügend Glück im Leben gehabt. Nachdem sie meine ganze Familie ermordet haben, kann ich auch mal ein bisschen Glück haben. Und wissen Sie, was mein tieferes Glück war? Und das ist eigentlich viel zu kompliziert für ein so kurzes Gespräch: Dass mein Vater das grauenhafte Glück hatte, von seinen Todfeinden, den Nazis, ermordet zu werden in Auschwitz. Und nicht von seinen falschen Genossen in Moskau im Gulag. Was wäre passiert, wenn mein Vater sich in die Sowjetunion gerettet – und ich weiß, dass von zehn Kommunisten, die sich in die Sowjetunion flüchteten, acht ermordet wurden – und überlebt hätte? Einer von den Überlebenden war Herbert Wehner, ein anderer Walter Ulbricht. Was wäre, wenn mein Vater im Gulag verfault wäre, erfroren?

Diese Ihre Lebenserfahrung steckt ja in unterschiedlichster Form auch in den Liedern, die jetzt auf dem neuen Album gecovert wurden. Mit Hintergrundwissen hört man sie ganz anders als ohne Hintergrundwissen. Was kommt von den Texten bei der jungen Generation an, die sie sich jetzt neu erschließen wird? Kann man davon noch einen Hauch erahnen?
Wolf Biermann: Davon kann man mehr als einen Hauch und mehr als nur erahnen. Die jungen Leute sind jung, aber nicht blöde, und haben ihre eigenen Erfahrungen auch mit Ungerechtigkeit, mit Wahrheit und Lüge in ihrer Welt, in ihrer Blase, in der sie leben. Aber die Substanz dieser Konflikte ist so alt wie die Menschheit. Die Substanz von Wahrheit und Lüge, von Feigheit und Mut ist in immer neuen historischen Gewändern und in immer neuen Konstellationen im Grunde immer dieselbe. Und wenn ein Lied, ein Gedicht stark genug und schön genug ist, dann liefert es diese Substanz. Die hält länger, als Biermann hält, und sie ist älter, als Biermann lebt, und sie wird auch noch gelten, wenn die jungen Leute, die jetzt meine Lieder singen, alte Säcke sind.

Ok Kid covert „Warte nicht auf beßre Zeiten“.

Ihr Optimismus steckt an, Herr Biermann.
Biermann: Ich kann gar nicht anders.

Und das ist vielleicht auch der Grund, warum Sie die späten 1960er und die frühen 1970er anders überstanden haben als andere Künstler in der DDR.
Wolf Biermann: Man geht nicht kaputt an den Schlägen, die man einsteckt. Unter uns gesagt: Man geht doch kaputt an den Schlägen, weil kein Mensch hält ewig, wie Brecht gesagt hat. Aber in dem Sinne, wie ich es meine, geht man nicht an den Schlägen kaputt, die man einstecken muss. Sondern an den Schlägen, die man nicht austeilt. Weil man sich nicht wehrt, weil man ein Feigling ist. Weil man sich aus Dummheit und Feigheit beugt.

 

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