„Air“ von Christian Kracht: Raus aus der Autofiktion, raus aus der Realität an sich!

Mit „Air“ kehrt Christian Kracht nicht nur der Autofiktion den Rücken, sondern gleich der Realität an sich
Mit „Eurotrash“ ist Christian Kracht zuletzt zu seinem Erstling „Faserland“ zurückgekehrt – und damit auch zur Autofiktion, die gerade mal wieder Hochkonjunktur hat. Danach war schwer vorstellbar, was er diesem Genre noch abgewinnen könnte. Insofern ist es wohl folgerichtig, dass Kracht mit seinem neuen Roman „Air“ nicht nur der Autofiktion, sondern gleich der Realität an sich den Rücken kehrt.
Dasselbe gilt für seinen Protagonisten Paul, einen Dekorateur und Innenausstatter mit einer Vorliebe für nordische Kargheit: graue Farben, Stein, Glas, wenige praktische Gegenstände, Einklang mit der Natur, die aber bitte nicht überhand nehmen soll. Vor Jahren ist Paul aus der Schweiz auf die abgelegenen Orkney Inseln gezogen, wohl aufgrund derselben Vorliebe. In vielerlei Hinsicht ist er ein typischer Kracht-Protagonist: ein Kosmopolit, ohne wirtschaftliche Sorgen, besessen von den Oberflächen der Dinge, zugleich geplagt von Einsamkeit und einer Sehnsucht nach einer nebulösen Authentizität. Als ihn Cohen, der Redakteur des Designmagazins Kūki, für einen Auftrag nach Norwegen bestellt, ist Paul begeistert: Er soll dabei helfen, das perfekte Weiß für einen neuen Anstrich der Serverhallen eines Datenzentrums, das es natürlich auch in Wirklichkeit gibt, zu finden.
Reise in eine andere Welt
Doch nach der Landung in Stavanger gibt es die ersten Irritationen, gibt Cohen doch offen zu, dass er die Kūki-Ästhetik, für die Paul schwärmt, längst für Kitsch hält und stattdessen von slawischem Neuheidentum besessen ist. Noch krasser allerdings: Bei der Besichtigung der Halle gibt es einen sonnenwindbedingten Stromausfall, danach ist Paul verschwunden – und taucht in einer Parallelwelt wieder auf, irgendwo zwischen europäischem Mittelalter und, ja, slawischem Neuheidentum. Zusammen mit dem Waisenmädchen Ildr, das ihn versehentlich bei der Jagd anschießt, flieht er vor den Schergen eines düsteren Herzogs nach Süden, wo sie in einer Steinwüste auf eine Steinstadt an der Küste stoßen …
Bei aller Gewalt, der Ildr und Paul begegnen, kommen wir nicht umhin, zu bemerken, dass es genau die Art von Welt ist, die Paul sich wohl erträumt hätte: Der inorganische, kalte, saubere – und, auch das schwingt immer mit, unterschwellig faschistoide – Stil bestimmt hier alles, und die große Halle der Steinstadt ähnelt einem Restaurant, das er selbst einmal eingerichtet hat. Nur mit dem Unterschied, dass er hier gar kein Stil ist, keine Entscheidung, sondern die einzige Option, und damit auch gegen alle Kitsch-Vorwürfe gefeit. „Diese Menschen trugen seit dreihundert Jahren die gleiche Kleidung“, bemerkt Paul über die Bewohner:innen der Steinstadt, „es gab keine wechselnden Moden, die Schnitte veränderten sich nicht, sie zogen an, was es schon immer gegeben hatte.“
„– Es ist so einfach mit Deiner Maschine.
– Woher kennst Du dieses Wort – Maschine?
– Du hast es vorhin gesagt.
– Hab ich das?
– Ja, ganz sicher.
– Mag sein.“
Dass das bei genauerem Nachdenken keinen Sinn ergeben kann, ist offensichtlich. Überhaupt baut Kracht, nicht zufrieden mit der übernatürlichen Prämisse, laufend weitere Irritationsmomente ein. Was zum Beispiel hat es mit der Keramikpistole auf sich, die Paul in die Parallelwelt mitgebracht hat und die anscheinend nur Ildr bedienen kann? An einer Stelle bezeichnet Ildr die Pistole als Maschine, woraufhin Paul sie fragt, woher sie diesen Begriff kennt. Er habe ihn vorhin benutzt, sagt sie, obwohl er sich nicht daran erinnern kann – und wir beim nachlesen sicher sind, dass es nicht so gewesen ist. Überhaupt, Ildr: Gelingt es diesem neunmalklugen Mädchen nicht viel zu schnell, sich im Gespräch mit Paul abstrakte wissenschaftliche Konzepte anzueignen?
Buchstäblich verflacht
Es ist alles zu schön, um wahr zu sein. Als dann auch noch Cohen in derselben Welt auftaucht, hält die sterile Idylle nicht mehr lange an, und am Schluss endet alles in einem Gemälde an Pauls Wand, das den Zauberer Merlin und den Ritter Lancelot zeigt: buchstäblich verflacht. Spannend natürlich, wie Kracht hier mit den Metaebenen und Referenzen spielt. Spannend aber auch, wie nah er dank seines Sujets – ob gewollt oder nicht – an Fantasybücher gerät. Dass eine Person aus unserer Welt in einer anderen landet, ist seit „Alice im Wunderland“ und den Narnia-Romanen ein klassisches Erzählmuster des Genres.
Sicher, Kracht will auf mehr hinaus als bloße Unterhaltung, und seine postmoderne Vermischung der Welten geschieht so subtil, dass sich eine ganze Reihe von Interpretationsräumen auftut. Und doch ist auch dieser Kunstgriff keine Seltenheit: Schon in der Kinoadaption von „Der Zauberer von Oz“ (1939) haben alle Fabelwesen, denen Dorothy begegnet, einen Gegenpart in der Realität von Kansas, und in Michael Endes „Die unendliche Geschichte“, bis heute der Höhepunkt des Genres, ist es das gleichnamige magische Buch, in dem der Protagonist Bastian erst liest und dann selbst landet – nur um festzustellen, dass er sich zuletzt doch dem wahren Leben stellen muss.
Auf Michael Endes Spuren
Wie Ende vor ihm nimmt auch Kracht mit „Air“ letztlich den Eskapismus aufs Korn. Pauls Weltabgewandtheit, seine Besessenheit mit Architektur und Design, sind dabei nur weniger extreme Auswüchse der buchstäblichen Weltflucht, die ihn schließlich in ein Paralleluniversum befördert. Ohne die großen Krisen unserer Zeit auch nur zu erwähnen, macht Kracht sie sichtbar, indem er seine Protagonisten an die Ränder des Kontinents ziehen lässt und sich nach Einsamkeit und Bedeutsamkeit sehnen lässt. Die laute, volle, komplizierte Welt ist zu viel für Paul – da doch lieber das simple, todernste, letztlich aber zweidimensionale Leben eines Fantasy-Helden.
Und doch steckt in „Air“ mehr als nur Ironie und Zynismus: Die Beziehung zwischen Paul und Ildr etwa mag konstruiert und sentimental wirken, sie hat aber einen bewegenden Kern. Überhaupt funktioniert die Oberfläche, die reine Handlungsebene, dank der schnörkellosen Sprache Krachts gut genug, dass man sich durchaus vorstellen kann, wie er eines Tages eine eigene Jugendbuch-Reihe à la „Tintenherz“ beginnt. Genauso, wie „Die unendliche Geschichte“ das Buch im Buch gleichzeitig zum Verhängnis und zur Rettung seines Helden macht, nimmt die fantastische Reise in „Air“ selbst eine doppelte Stellung ein. Denn auch Literatur, insbesondere Fantasy-Literatur, mag vorrangig dem Eskapismus dienen – natürlich geht es auch nicht ohne sie, zumindest nicht, wenn man Christian Kracht heißt oder gerne Christian Kracht liest. Genau diese Zerrissenheit aber fängt sein so deutlicher wie uneindeutiger Roman ein.