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Corona-Alben zwischen Folk und Elektro: Die Alben der Woche

Jeff Tweedy von Wilco, The Mountain Goats, Actress und die Portlander Musikerin Laura Veirs: Diese Alben spenden Kraft für den Herbst.

Diese Woche arbeiten sich allerhand namhafte Musiker*innen an der Coronakrise ab: Sowohl Wilco-Mastermind Jeff Tweedy als auch John Darnielles The Mountain Goats versuchen sich an einem Pandemiealbum. Jeff Tweedy hat sich dafür seine beiden musikalischen Söhne an die Seite geholt und führt mit dem gemeinsam zu Hause aufgenommenen Album „Love is the King“ die elektrische Gitarre in seinen Folk-Solokosmos ein. John Darnielle setzt dagegen auf ein opulentes Bandalbum. „Getting into Knives“ ist jedoch aller Opulenz zum Trotz mindestens genauso von Zweifeln, Unsicherheit und Angst geprägt, wie die lockdowntauglichsten Songs aus dem Mountain-Goats-Repertoire.

Dagegen hält Actress, mit einem geisterhaften Album, das mit verwaschenen Ambient-Landschaften und gespenstischen Klavierloops einen roten Faden in der rätselhaften Melancholie von „Karma & Desire“ bietet. Erst zum Ende hin liefern Gastbeiträge von grandiosen Gästen wie Zsela und Sampha Erlösung. Die Singer/Songwriterin Laura Veirs aus Portland hat dagegen mit heimeligem Folk und Calypso-Oasen ein kreativ befreites Scheidungsalbum herbeigezaubert – und das, obwohl sie uns versichert, dass die wirkliche kreative Freiheit erst auf den Songs Früchte getragen hat, die Veirs nach den Aufnahmen zu „My Echo“ geschrieben hat. Die Alben der Woche:

Actress: Karma & Desire

Actress Karma & Desire AlbumcoverDa die Tanzflächen aktuell ohnehin leer bleiben, spielt es wohl keine Rolle, dass das neue Actress-Album kaum zum rhythmischen Umherzucken taugt. Umso besser passt es ins zwangsweise erstarrte und doch instabile 2020. Auf „Karma & Desire“ schafft Darren Cunningham verwaschene Ambient-Landschaften, oft nur bevölkert von gespenstischen Klavierloops, die den roten Faden der Platte bilden. Der ist notwendig, weil Beats, Melodien und selbst Stimmungen in Actress’ uneindeutiger Welt oft nur zu erahnen sind.

Selbst die großartigen Stimmen der beiden gleich mehrmals vertretenen Gäste Zsela und Sampha lässt Actress flüstern, stottern und hinter Effekten verschwimmen, mit Ausnahme des erlösenden Closers „Walking Flames“, auf dem Sampha endlich singen darf. Am tanzbarsten klingen noch die beiden Kollaborationen mit DJ Aura T-09, „Turin“ und „Loveless“. Im letzteren Song wird mantraartig eine Frage wiederholt: „Don’t you wanna know me better?/Don’t you wanna know?“ Nein danke, Actress. Deine Musik soll bitte ein wunderschönes Rätsel bleiben.

Jeff Tweedy: Love is the King

Jeff Tweedy Love is the King AlbumcoverEine musikalische Familie ist eine praktische Sache, wenn man sich im Lockdown befindet. Im April 2020 stand auch in der Millionenstadt Chicago das Leben still, und Jeff Tweedy hat die Zeit genutzt, um mit seinen Söhnen Spencer und Sammy im eigenen Studio jeden Tag einen Song zu schreiben und aufzunehmen. Wenn der 53-jährige Tweedy, seit 1994 Kopf der progressiven Folkband Wilco, nun über Einsamkeit und Trauer singt, so sind das gewohnte Themen eines Mannes, den einst ernsthafte Depressionen gequält haben.

Aber Schwere wird hier stets mit Humor gebrochen, nicht nur, wenn Tweedy davon singt, als Rotkehlchen wiedergeboren zu werden. „Love is the King“ fühlt sich sanfter und zugänglicher als seine letzten Platten an; „Opaline“ und „Natural Disaster“ klingen gar nach easygoing Seventies-Countryrock. Das Album ist nichts geringeres als die Rückkehr der E-Gitarre im akustischen Tweedy-Solo-Kosmos: Vor allem der Titelsong hat eines dieser mit seltsamer Krümmung in die Euphorie stolpernden Soli, die schon die besten Wilco-Songs ausgezeichnet haben. Schönste elektrische Melancholie.

Laura Veirs: My Echo

Laura Veirs My Echo AlbumcoverDas Spannendste an Laura Veirs’ elftem Album ist nicht ihr typisch warmherziges Songwriting, sondern ihre Scheidung, die der Platte vorausgegangen ist. Mit Produzent Tucker Martine galt die Musikerin als Vorzeigepaar der Indieszene Portlands, nun aber habe man sich einvernehmlich getrennt. Auf „My Echo“ ist weder Verbitterung noch die Herausforderung des Neuanfangs zu spüren, sehr wohl aber die Verunsicherung eines aus den Fugen geratenden Lebens. „I don’t know where I am going“, singt Veirs in „Freedom Feeling“ zu sanft angeschlagenen Klavier- und Gitarrenakkorden. In „Turquoise Walls“ fühlt sie sich als „Dr. Jekyll, Mr. Hyde“, während eine stimmungsvolle Bridge zu einer leuchtenden Hook führt.

Und in „Another Space and Time“ regt ein leichtfüßiger Calypsobeat zu Entspannungsmomenten an. Aber bei allem heimeligen Folk schafft Veirs es – nicht zum ersten Mal –, ihrem Storytelling bedrohliche Untertöne zu verleihen: Wenn sich in „All the Things“ ein Hauch Twang dazugesellt, sich in „Burn too bright“ das belanglos wirkende Arrangement ins Ohr einnistet, oder wenn die Square-Dance- Ausgelassenheit in „Memaloose Island“ ein aufgesetztes „It’s good to be alive“ verlauten lässt. Nach allen Ehequerelen fühle Veirs sich nun kreativ befreit, sagt sie, was sich aber erst in den Songs widerspiegele, die sie nach „My Echo“ geschrieben hat. Kein Problem, bis dahin hören wir nur zu gerne diese Platte.

The Mountain Goats: Getting into Knives

The Mountain Goats Getting into Knives Albumcover„I am going to make it through this year/if it kills me“: Nicht nur der Song „This Year“ vom 2005-er Mountain-Goats-Werk „The Sunset Tree“ qualifiziert John Darnielle als perfekten Begleiter durch die Pandemie. Auch ein Jahr später veröffentlichte er mit „Get lonely“ ein Album, auf dem gleich mehrere Songs die Gefahren thematisieren, die beim Verlassen des eigenen Hauses drohen, und den Lockdown im Frühjahr hat der 53-jährige Songwriter genutzt, um nur mit seinem Ghettoblaster die LoFi-Platte „Songs for Pierre Chuvin“ aufzunehmen, auf der er historische Texte für die Gegenwart anverwandelt: „Return the peace you took from me/give me back my community“.

Gerade mal sieben Monate später folgt nun ein opulentes, in Memphis mit Produzent Matt Ross-Spang eingespieltes Bandalbum, das seinem Titel alle Ehre macht: „The last Place I saw you alive“ ringt mit der Gewissheit, dass man einen geliebten Menschen nie mehr wiedersehen wird. Die mit Bläsern und Orgel ausstaffierte Country-Soul-Single „Be famous“ ermuntert zu großen Ambitionen – bekommt dann aber mit „Tidal Wave“ auch eine Antithese: „Even the very proud probably die on their knees“. Doch so sehr Darnielle die Hörer*innen auch in offene Messer laufen lässt, zeigt gerade „Tidal Wave“, dass zwischen den Zeilen auch Hoffnung versteckt ist: „Not every wave is a tidal wave“.

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