Nostalgie und Zynismus: Die Alben der Woche
In dieser Woche wird zurückgeblickt und Bilanz gezogen. Nur Calexico freuen sich trotz allem bereits auf Weihnachten.
Nur noch vier Mal präsentieren wir an dieser Stelle die besten Alben der Woche im Jahr 2020. Denn das Jahr neigt sich dem Ende zu, aber davor wird noch einmal gefeiert. Weihnachten steht vor der Tür, und auch, wenn das Fest dieses Jahr alles andere als gewohnt ablaufen wird, kann man daran Spaß haben. Calexico machen vor, wie es geht: Die Rocker haben mit „Seasonal Shift“ ein Weihnachtsalbum aufgenommen. Doch keine Angst: Zu besinnlich oder gar kitschig wird hier nichts. Dafür sorgt der knochentrockene Wüstenrock mit einer Prise Zynismus.
Aber was, wenn man sich nicht auf Weihnachten freut? Dann bleibt immer noch der Blick zurück. Diese Woche ist nämlich ein gefundenes Fressen für Nostalgiker. Da ist zum einen Louis Philippe, der zum ersten Mal seit 13 Jahren ein neues Album veröffentlicht. Alle Fans von Chamberpop wird es besonders freuen, dass der französische Sportjournalist mal wieder zu seinem zweiten Beruf zurückgekehrt ist.
Und Belle & Sebastian klangen schon auf ihrem ersten Album nostalgisch. Neues aus dem Studio lässt bei der Band leider noch auf sich warten. Aber mit dem Live-Album „What to look for in Summer“ kann man sich immerhin ausmalen, wie es wäre, jetzt bei einem ihrer Konzerte zu sein. Und das ist 2020 doch das schönste Geschenk, das man sich ausdenken kann. Die Alben der Woche:
Calexico: Seasonal Shift
Der City-Slang-Newsletter verkündet: „Calexico veröffentlichen am 4. Dezember KEIN Weihnachtsalbum!“ Ein Blick auf das Cover offenbart diese Ankündigung ganz offensichtlich als Lüge. „Seasonal Shift“ ist, trotz des Marketing-Gimmicks, ein Weihnachtsalbum. Jedoch eines von der Sorte, die Besinnlichkeit eher durch Zynismus aufkommen lässt, und trotz anfänglichen Widerwillens stellt sich Festtagsstimmung ein, wenn Joey Burns auf dem Titeltrack „Family“ mit „Dysfunctionality“ reimt.
An anderer Stelle funktioniert die Besinnlichkeit sogar ganz ohne doppelten Boden, was natürlich nicht zuletzt an Calexicos wunderbar unweihnachtlichem Tex-Mex-Altrock-Sound liegt, der jedwede Michael-Bublé-Bedenken im Keim erstickt. So lassen sich etwa die Coverversion von Tom Pettys „Christmas all over again“, das venezolanische Weihnachtslied „Mi Burrito sabanero“ und vor allem der ruminative Walzer „Nature’s Domain“ auch dann noch prächtig hören, wenn man den Festtags-Kater schon längst wieder überwunden hat. Der sehr missglückte Rapausflug „Sonoran Snoball“ darf dagegen gerne im Filmriss hängenbleiben.
Louis Philippe & The Night Mail: Thunderclouds
Die Referenzen lassen ja durchaus Gutes erwarten: Philippe Auclaire, besser bekannt als Louis Philippe, ist zwar hauptberuflich Fußballjournalist, doch seit den 80er-Jahren arbeitet er auch als Musiker. Philippe war Produzent und Songwriter für das kurzlebige Londoner Label èl, dessen Postpunk- und Chamberpop-Platten heute für Indie-Künstler aus aller Welt als richtungsweisend gelten. So zählt etwa Cornelius, der Pop-Autodidakt aus Tokyo, zu seinen erklärten Fans, und dieses Jahr hat Philippe mit Stuart Moxham von den Young Marble Giants das Album „The Devil laughs“ veröffentlicht.
„Thunderclouds“ ist nun sein erstes Soloalbum seit 13 Jahren, und für dieses Unterfangen hat sich Philippe erneut prominente Unterstützung gesucht. Gemeinsam mit seiner Backingband The Night Mail, die sich aus Mitgliedern von Paul Wellers Band und Death In Vegas zusammensetzt, entwirft Philippe einen orchestralen Retropop-Sound mit unheilvollen Noir-Untertönen und psychedelischen Brüchen. Eine spannende Stilübung – der auf der Länge von 13 Songs jedoch leider die Abwechslung fehlt.
Belle & Sebastian: What to look for in Summer
Eigentlich wollten sie dieses Jahr nach L.A., um ein neues Album aufzunehmen, doch auch Belle & Sebastian waren zum Entrümpeln gezwungen: Das Doppelalbum bietet Mitschnitte von verschiedenen Konzerten aus dem Jahr 2019, wobei der Schwerpunkt auf älteren Songs à la „Seeing other People“ und „The Boy with the Arab Strap“ liegt. Den Eurotrash-Fehltritt „Girls in Peacetime want to dance“ aus 2015 lassen sie komplett weg, dafür ist mit „We were beautiful“ aber der größte Hit ihrer jüngsten EP-Serie dabei. „What to look for in Summer“ macht übrigens noch glücklicher, wenn man die Platte mit den Yoga-Lektionen kombiniert, die Stuart Murdoch auf der Facebook-Seite von Belle & Sebastian postet.