Miniserie „Aus Mangel an Beweisen“ bei Apple TV+: Ist dieser Mann schuldig?
Ist der Staatsanwalt der Mörder in seinem eigenen Fall? Die Miniserie „Aus Mangel an Beweisen“mit Jake Gyllenhaal erzählt davon dicht und packend.
In der Miniserie „Aus Mangel an Beweisen“ bei Apple TV+ gerät Jake Gyllenhaal („Road House“) als Top-Staatsanwalt unter Mordverdacht an seiner Kollegin und Geliebten. Der Achtteiler (Originaltitel: „Presumed innocent“) basiert auf dem gleichnamigen Roman von Scott Turow und dem Film mit Harrison Ford von 1990 und ist jetzt bei Apple TV+ zu streamen.
Der Chicagoer Staatsanwalt Rusty Sabich (Jake Gyllenhaal) erhält den Anruf, dass seine Kollegin Carolyn Polhemus (Renate Reinsve, „Der schlimmste Mensch der Welt“), mit der er viele Fälle gemeinsam bearbeitet hat, ermordet wurde. Erschlagen und ähnlich gefesselt wie das Oper eines Prostituiertenmörders, den Rusty und Carolyn hinter Gitter gebracht hatten. Oberstaatsanwalt Raymond Horgan (kampflustig: Bill Camp, „The Night of“, „Das Damengambit“) überträgt seinem besten Mann Rusty den Fall, obwohl der verklemmt-aufmüpfige Staatswanwalt Tommy Molto (superb: Peter Sarsgaard, „Dopesick“) auch gerne übernehmen würde. Molto ist Protegé des aufstrebenden Nico Della Guardia (schmierig: O-T Fagbenle, „The Handmaid’s Tale“), der in einer Wahl gegen Raymond als Oberstaatsanwalt antritt. Die beiden Männerduos verbindet herzliche Abneigung.
Schuldig oder nicht schuldig?
Rusty verschweigt Raymond allerdings, dass er mit Carolyn eine heftige Affäre hatte, und auch, dass er am Abend ihres Todes in ihrer Wohnung war. Als Raymond die Wahl gegen Della Guardia verliert und Molto statt Rusty den Fall übernimmt, versucht Rusty verzweifelt, einen zweiten Tatverdächtigen ausfindig zu machen. Seine Besuche im Gefängnis bei dem von ihm und Carolyn überführten Mörder des früheren Falles führen ins Leere, stattdessen werfen sie eher die Frage auf, ob sie damals den Richtigen verknackt haben oder ob Carolyn Beweise unterschlagen hat. Rusty muss seiner Frau Barbara (unnachgiebig: Ruth Negga) und seinen Kindern gestehen, was er Raymond auch schon beichtete. Doch ist er überhaupt ein glaubwürdig, wo er doch so viel lügt? Immer mehr Indizien tauchen auf, die gegen ihn sprechen. Rusty ist unschuldig, bis seine Schuld bewiesen wird, das ist das US-Rechtsprinzip „Presumption of Innocence“ – aber ist er auch wirklich unschuldig eines Verbrechens aus Leidenschaft? Rusty bittet Raymond, der eigentlich in den Ruhestand gehen wollte, ihn zu verteidigen. Derweil Molto den Ex-Kontrahenten Rusty auch aus ganz privater Abneigung vor Gericht stellen und Della Guardia eine Verurteilung in diesem aufsehenerregenden Fall sehen will …
„Aus Mangel an Beweisen“ bei Apple TV+: Aktualisiert und modernisiert
Der Originalfilm ist 25 Jahre alt, und in der Zwischenzeit hat sich in Hollywood viel getan: Der zuständige Richter und der in dem früheren Mordfall ermittelnde Polizist, damals beide mittelalte bis alte weiße Männer, sind nun weiblich und afroamerikanisch, Rustys Frau und seine Kinder ebenfalls. In einer diversen Großstadt wie Chicago, wo die Handlung angesiedelt ist, keine allzu woke Neubesetzung, sondern Zeichen einer Welt, die sich verändert hat. Carolyn wurde von einer hauptsächlich hübschen Frau, die mit fast allen in Rustys Umfeld geschlafen hat, zu einer modernen, taffen Anwältin. Auch Barbara steht bei der Neuinterpretation mehr im Zentrum als in der Vorlage und dem Film – als starke Frau, die die Demütigungen durch Rustys beendete und wieder aufgeflammte Affäre und seine Situation als Hauptverdächtiger in dem Mordfall auf sich nimmt, weil sie ihre Familie auf Teufel komm raus beisammenhalten will. Dabei lernt sie viel über sich und ihr eigenens Begehren, vor allem, als sie einen attraktiven Barmann kennenlernt.
Die Besetzung von Rusty mit Jake Gyllenhaal stellt sich als Glücksfall heraus: Denn während man bei dem hundeäugigen Good Guy Harrison Ford von 1990 keine Sekunde wirklich dachte, dass er eine Frau umbringen könnte, sieht das bei Gyllenhaal schon ganz anders aus, ihm traut man die Tat durchaus zu. Viele seiner Figuren in früheren Filme grenzen ans Psychotische („Prisoners“) oder gehen noch öfter darüber hinaus („Donnie Darko“, „Enemy“, „Nightcrawler“). Zudem besitzt Gyllenhaal eine in sich brütende Brutalität, die hier bei Rusty regelmäßig urplötzlich aus ihm herausbricht – was lange gärt, wird endlich Wut. Mit seinen übergroßen, durchdringenden Augen, die in Sekundenbruchteilen vom sanften Blick zum manischen Starren wechseln können, seiner kräftigen, leicht untersetzten Statur und dem kantigen, massiven Kinn wirkt Gyllenhaal oft wie ein amphibisches Jagdtier auf dem Sprung zur Beute.
Apple TV+: Kommt Batman zur Rettung?
Die Serie verstärkt diese dunklen Seiten von Rusty, weil nie klar ist, ob er aufgrund des ungeheuren Drucks, der auf ihm lastet, immer wieder die Kontrolle über sich verliert und andere Leute physisch angeht, oder ob es tiefergehende, beunruhigende Gründe dafür gibt. Seine liebevolle Beziehung zu seinen Kinder spricht für das Erste, seine Besessenheit mit Carolyn und sein von ihm selbst als Stalking bezeichnetes Verhalten, seine Unehrlichkeit über die Affäre gegenüber Barbara und Raymond und seine Anwesenheit in der Mordnacht für Letzteres. Zusätzliche Verwirrung verursachen immer wiederkehrende, kurze Szenen, in denen Rusty an dem Abend des Mordes mal mit Carolyn schmust, mal einen brutalen Streit mit ihr hat, mal küssen sich die beiden, mal schubst er sie und schlägt ihr mit einem Schürhaken den Schädel ein. Flashbacks einer verdrängten Tat oder Horrorvisionen des Todes einer geliebten Person? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass Caroyln die Beziehung beenden und Rusty das nicht akzeptieren wollte. 30 unbeantwortete Textnachrichten am Abend des Mordes an Carolyn sprechen eine deutliche Sprache.
Dazwischen fliegt die Kamera immer wieder in verschiedenen, ausgefallenen Winkeln über die Hochhäuser und Straßen Chicagos, dazu dräut der Score, als befänden wir uns in „The Dark Knight 4“ und gleich schwebe Batman ins Bild, um seinen Job zu tun. Kein Wunder: Chicago war Drehort von Christopher Nolans „Batman“-Trilogie. Aber es scheint auch, als nehme die Kamera hier unsere Position ein, die wir vergeblich nach der Wahrheit in diesem Geflecht aus Lügen, Besessenheit und Gewalt suchen – wofür die urbane Landschaft aus Tausenden von verspiegelten, anonymen Fenstern, endlosen Straßezügen und monströsen Skyscrapern, an und hintern denen sich die Sonne bricht, als scheitere auch sie daran, Licht in die Sache zu bringen, eine stimmige Metapher ist. Passend dazu spielen viele Teile der Handlung in von Sepiatönen, Fäulnisgrün, Nussholzbraun und sämigen Gelb dominierten Innenräumen und manchmal auch im fast völliger Dunkelheit.
Im Gegensatz zur überladenen Serie „Eric“ bei Neflix, wo ebenfalls ein Mann von seinen Dämonen gejagt wird, versteht es Produzent und Drehbuchautor David E. Kelley („Ally McBeal“, „Anatomie eines Skandals“), ein ausgewiesener Spezi für Justizserien, sich auf diesen einen Fall über acht Folgen lang zu konzentrieren und sonst höchstens noch den Zusammenhang zwischen Recht und Politik im US-amerikanischen Justizsystem aufzuzeigen. Dabei führt uns „Aus Mangel an Beweisen“ bei Apple TV+ immer wieder auf falsche Fährten und reißt die Gewissheiten, die wir glaubten zu haben, regelmäßig ein, vor allem mit dramatischen Cliffhangern am Ende jeder Folge. Das ist zwar teils etwas zugespitzt, aber sehr effektiv fürs Binge-Watching. Inhaltlich hat der Stoff Parallelen zu HBOs Erfolgsserie „The Night of“ (2016) . Auch der Schauspieler Bill Camp, der damals den ermittelnden Polizisten spielte und hier Sabichs früheren Vorgesetzten und späteren Verteidiger Raymond, ist in beiden Serien dabei.
Buch und Originalfilm outen am Ende Barbara als Mörderin – die neue Serie wird sicher eine andere Täterin oder einen anderen Täter präsentieren – das wäre sonst ja auch zu vorhersehbar …