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Charlie Kaufman: Hasst du dich lieb?

Buchcover „Ameisig“ von Charlie Kaufman

Mit Drehbüchern wie „Being John Malkovich“ hat Charlie Kaufman das Kino revolutioniert. Jetzt nimmt er sich die Literaturwelt vor – und erzählt in seinem Romandebüt von einem alten, weißen Mann, der auch noch ein erfolgloser Filmkritiker ist.

Der Durchbruch gelang Charlie Kaufman 1999 mit dem Drehbuch für Spike Jonzes Film „Being John Malkovich“, für das er auch gleich eine Oscarnominierung einheimsen konnte. Bekommen hat er die begehrte Trophäe schließlich fünf Jahre später für „Vergiss mein nicht!“, und in der ersten Hälfte der Nullerjahre war Kaufman nicht nur Kritikerliebling, sondern mit seinen irrwitzigen und wunderbar überfordernden Arbeiten auch an der Kinokasse sehr erfolgreich: In den Plots lösen sich die Grenzen zwischen Realität und Traumwelt auf, und auch wenn es oft um Zeitreisen und Bewusstseinswanderungen geht, bleibt Kaufman doch auf Distanz zum Fantasy-Genre. Mit „Synecdoche, New York“ übernimmt Kaufman im Jahr 2008 auch zum ersten Mal die Regie, doch wird es für ihn zunehmend schwieriger, da die Studios immer weniger bereit sind, abgedrehte und kostspielige Filme zu wagen. Den Film „Anomalisa“ finanziert er zum Teil mit einer Kickstarter-Kampagne, und mit „I’m thinking of ending Things“ arbeitet Kaufman auch erstmals für Netflix.

Mit einem Roman kann Charlie Kaufman komplett freidrehen

Naheliegend, dass der 62-jährige New Yorker auf die Literatur ausweicht, wo er keine Budgeteinschränkungen fürchten muss und komplett freidrehen kann: Sein Debütroman kommt auf stolze 864 Seiten, und der Plot toppt den Irrsinn seiner Drehbücher, während er zugleich vertraute Motive aufgreift, wie etwa das Löschen und Wiederholen von Erinnerungen. Antiheld von „Ameisig“ ist der Endfünfziger B. Rosenberg, ein Filmfreak, der abseitige Kritiken und Bücher schreibt, die kaum jemand liest, und der sich als Dozent so gerade eben in New York über Wasser halten kann. Als er nach St. Augustine reist, um für sein geplantes Buchprojekt „Nun endlich werde ich: Gender und Transformation im amerikanischen Kino“ zu dem Stummfilm „A Florida Enchantment“ zu forschen, macht er eine folgenschwere Bekanntschaft: In der Wohnung nebenan lebt der 119-jährige Afroamerikaner Ingo Cutbirth, der seit 90 Jahren an einem Film arbeitet. Rosenberg wittert die Chance seines Lebens: Womöglich ist das dreimonatige Epos der wichtigste Film aller Zeiten, und tatsächlich erklärt Cutbirth sich bereit, ihm das Werk vorzuführen – doch dann verstirbt der Regisseur während der Vorführung. Rosenberg hält sich nicht an die Absprache, den Film nach dessen Tod zu zerstören. Wie gebannt schaut er den Film bis zum Ende und ist immer euphorisierter. Doch als er das Werk für weitere Sichtungen nach New York überführen will, geht der Laster mit dem hochsensiblen Material in Flammen auf. Zudem erleidet Rosenberg bei seinem Rettungsversuch heftige Brandverletzungen und fällt in ein mehrmonatiges Koma. So ist nicht nur das vermeintliche Meisterwerk verloren, sondern auch Rosenbergs Erinnerung an den Inhalt.

 

Soweit der zentrale Plot, der nicht nur von dem unfassbar geschwätzigen Protagonisten immer wieder mit seitenlangen und oft brüllend komischen Exkursen unterbrochen wird, sondern mit fortschreitender Handlung auch immer mehr zerfasert. Wenn Rosenberg versucht, seine Erinnerung mit Hilfe von Psychiatrie und Hypnose anzukurbeln, nimmt die Handlung vollkommen aberwitzige Wendungen und verlagert sich an obskure Schauplätze wie Hirnwindungen, Himmelsleitern und geheimnisvolle Höhlen.

Wer aber ist dieser neurotische Intellektuelle B. Rosenberg, der einem Woody-Allen-Film entsprungen sein könnte und den Kaufman ins Zentrum seiner monumentalen und ganz und gar eigenen Komödie stellt? Rosenberg brüstet sich nicht nur ständig mit der Tatsache, dass er eine afroamerikanische Freundin hat, sondern er weiß auch ganz genau, wie er sich bezüglich Identitätspolitik und Diversity zu verhalten hat. „Die dritte Person Plural ist in grammatikalischer und vor allem ästhetischer Hinsicht inakzeptabel. Xier ist die überlegene Lösung des Problems nichtgegenderter Pronomen, dem wir uns als ein Volk des erweiterten Gender-Spektrums heutzutage gegenübersehen“, lässt Kaufman seinen Antihelden sagen. Lacht der alte weiße Leser, wenn solche Diskurse immer wieder auftauchen und karikiert werden? Dann bleibt ihm das Lachen im Halse stecken. „Wann bin ich eigentlich so alt geworden? Es geschah nach und nach. Und doch innerhalb eines Augenblicks. Hier bin ich also, ein verschrumpelter (und nicht nur wegen der Badewanne!), mehr oder weniger impotenter alter Mann, in Anlehnung an Ralph Ellison, nicht an H.G. Wells, den alten Rassisten! Mit Blick auf das Leben von Ellisons unsichtbarem Mann weiß ich, dass ich keinen Grund zur Klage habe. Und ich werde meine trivialen Beschwerden für mich behalten, um nicht die Hierarchie des Leidens umzustoßen, in der ich, wie mir bewusst ist, ganz unten stehe, unmittelbar neben all den anderen alten weißen Männern, aber (glücklicherweise!) über weißen Männern, die Serienmörder und/oder Kriegsverbrecher sind. Doch auch ich leide! Natürlich würde ich das nie jemandem sagen, mit Ausnahme eines weißen Kriegsverbrechers, sollte ich je einem begegnen. Jeder braucht irgendjemanden, auf den er herabschauen kann.“

Rosenberg weiß genau, wie er sich produziert. Er legt Bestenlisten an, die ihn als Kenner definieren, und er überlegt sich gut, welchen obskuren Kunstfilm er zum Meisterwerk erklärt. Natürlich hadert er mit dem Verfall der Kunst, und zugleich ist er ein Opportunist, der sich die Haltungen aneignet, die es vermeintlich braucht, um innerhalb des Kulturbetriebs doch noch Anerkennung zu finden. Woran glaubt er wirklich, wem fühlt er sich verpflichtet, und was befeuert seine Leidenschaft? Kaufman nutzt den Erzähler auch als Vehikel für seinen Selbsthass und lässt Rosenberg über sein filmisches Schaffen ätzen. „Man vergleiche das mit dem verworrenen Zeug aus der Feder von Charlie Kaufman. Schräger als Fiktion ist der Film, den Kaufman geschrieben hätte, wäre er imstande, seine Arbeit zu planen und zu strukturieren, statt schlicht aufzuschreiben, was ihm gerade durch die Rübe rauscht, willkürlich halbgare Konzepte zusammenzuwerfen, nach einem anderen Maßstab als einem hippiemäßigen ,Cool, Mann’. Ein solches Kriterium mag funktionieren, wenn derjenige, der diese Einschätzung vornimmt, auch nur einen Funken Humanismus in der Seele trägt. Kaufman tut das nicht, also schickt er seine Figuren durch höllische Landschaften, ohne dass es für sie Hoffnung auf ein Begreifen oder auf Erlösung gäbe.“

Mit all den aberwitzigen Exkursen, Referenzen und narrativen Brüchen ist der Debütroman von Charlie Kaufman ein unendlicher Spaß.

Ein Begreifen gibt es auch in „Ameisig“ nicht. Mit fast 900 Seiten ist Kaufmans Debütroman mit all den aberwitzigen Exkursen, Referenzen und narrativen Brüchen ein nahezu unendlicher Spaß. Den alten weißen Männern, dem Problem der kulturellen Aneignung und den vielen Fragen der Identitätspolitik kann der Roman mit neuen Antworten nicht beikommen – wohl aber mit neuen Perspektiven aus den absurdesten Blickwinkeln. Zwischen Selbsthass und Kulturkritik verliert sich der Roman analog zum Hauptplot in erkenntnisreicher Uneindeutigkeit. Was nicht schlimm ist, denn am Ende kann uns ja immer noch die Apokalypse retten.

 

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