„Der Kaiser der Freude“ von Ocean Vuong

Das Debüt mag Genregrenzen verschoben haben, doch schon sein zweiter Roman „Der Kaiser der Freude“ wirft die Frage auf, ob es derzeit eigentlich Autor:innen gibt, die mit dem Lyriker Ocean Vuong mithalten können.
Mit „Der Kaiser der Freude“ wechselt der zunächst für seine Gedichte gefeierte Ocean Vuong zum allwissenden Erzähler in der dritten Form und entwirft für das trostlose Kaff East Gladness im New England des Jahres 2009 ein Figurenensemble, bei dem nicht nur Hai und Grazina unvergesslich sind.
„Die Superkraft der Jugend besteht darin, dass man dem Nichts am Nächsten ist, und darin gleicht sie dem hohen Alter.“ Spätestens auf Seite 420 werden Sie weinen. Der 19-jährige Hai besucht Grazina, die nach einem Sturz in ein Heim gebracht wurde. Zwar erkennt die an Demenz erkrankte 82-Jährige ihren Mitbewohner und Pfleger nicht – in ihrem Kopf ist sie im Zweiten Weltkrieg, und für sie ist er wieder Sergeant Pepper – doch Hai hat aus dem gemeinsamen Haus zwei Salzstreuer in Eulenform mitgebracht. Mit Hilfe der Eulen erzählt er Grazina von Noah, dem Jungen, mit dem sich das Leben für Hai kurzzeitig ganz okay angefühlt und dessen Tod ihn gebrochen und in die Schmerztablettensucht getrieben hat. Vielleicht weinen Sie erst auf Seite 420, doch zuvor sind Sie schon auf unfassbar viele Sätze gestoßen, die Sie sich am liebsten notiert hätten, um die Schönheit der so eindringlichen wie entlarvenden Bilder immer wieder nachwirken lassen zu können.
Ocean Vuongs Romandebüt „Auf Erden sind wir kurz grandios“ war ein langer Brief an seine Mutter, in dem er die Fluchtgeschichte seiner Familie, die abgehängte US-amerikanische Provinz und Queerness verhandelt. Mit „Der Kaiser der Freude“ wechselt der zunächst für seine Gedichte gefeierte 36-Jährige zum allwissenden Erzähler in der dritten Form und entwirft für das trostlose Kaff East Gladness im New England des Jahres 2009 ein Figurenensemble, bei dem nicht nur Hai und Grazina unvergesslich sind. Vuong lässt Hai in einem Diner namens HomeMarket jobben: die Filialleiterin und Ameuterwrestlerin BJ, die zu Verschwörungstheorien tendierende Maureen, Hais autistischer und vom Bürgerkrieg faszinierter Cousin Sony – sie alle verlangen nach einer Verfilmung als TV-Serie. Vuong zeichnet ein Außenseiterpanorama, er erzählt anrührend von Freundschaft und Solidarität, doch gesellschaftlicher Aufstieg und falsche Heilsversprechen kommen nicht vor.
Mit „Der Kaiser der Freude“ hat es Ocean Vuong auf unsere Liste der besten Bücher im Juni 2025 geschafft.