Unsere Top 10 im September
Alte Hasen wie Bill Callahan messen sich mit den Newcomern des Monats, Grant Pavol und Sprain: Die September-Ausgabe der besten Alben 2020.
Die September-Ausgabe unserer Liste der besten Alben 2020 hat es in sich: Nicht nur, dass Legenden wie der malische Virtuose Sidi Touré oder das experimentelle Elektro-Duo Matmos aus Kalifornien neue Alben veröffentlichen, diese Alben könnten auch unterschiedlicher kaum sein. Während Sidi Touré auf Reduktion setzt, weiten Matmos ihre Ambition auf ein dreistündiges Konzeptalbum aus. Dazu gesellen sich alte Hasen wie Drew McDowall, der schon bei Psychic TV und Coil mitgewirkt hat und nun mit „Agalma“ sein neues Soloalbum veröffentlicht – oder Bill Callahan, dessen „Gold Record“ nicht nur sein 18. Studioalbum ist, sondern gleich sein zweites im Jahre 2020.
Doch auch in Sachen Newcomer*innen liegt der September vorn: Mit dem Singer/Songwriter Grant Pavol und dem Noisepunk-Quartett Sprain schaffen es auch gleich zwei Debütalben in unsere Top 5. Unangefochten an Platz eins ist jedoch wieder ein etablierter Name – wenngleich Sophie Hunger auch mit Dan Carey eine Art Neuanfang wagt. Besser als mit ihrem live in einem Take aufgenommenen Multi-Genre-Wunderwerk „Halluzinationen“ ließe sich der September jedenfalls nicht zusammenfassen. Unsere Top 10 der besten Alben im September 2020.
10. Sidi Touré: Afrik Toun Mé
Den Einstieg unserer List der besten Alben im September 2020 macht Sidi Touré: Nach der überbordenden Band-Platte „Toubalbero“ von 2018 hat sich der legendäre malische Musiker für sein nächstes Album zurückgezogen. Die Reduktion auf ein Trio hat seine ihm eigene Energie, sein dynamisches Gitarrenspiel und seine gefühlvolle, wandlungsfähige Stimme gestärkt: Gemeinsam mit dem Gitarristen Mamadou Kelly und dem Perkussionisten Boubou Diallo spielt Touré diesmal nicht minder weitläufigen, aber schlichteren polyrhythmischen Folk.
War „Toubalbero“ ein Langstrecken-Sprint, ist „Afrik Toun Mé“ ein Spaziergang geworden, zwar in zurückgelehnt schlenderndem Tempo, doch immer noch zielgerichtet. Zwar ist „Afrik Toun Mé“ von Moment zu Moment betrachtet nicht so markant wie Tourés ambitioniertere Arbeiten, doch es gewinnt durch die Entspannung die Aura einer großen inneren Kraft, kommunal und tröstend. Der Vorteil eines erkundenden Spaziergangs: die Ruhe, einmal das große Ganze in Betracht nehmen zu können – und zu erkennen, was wirklich wichtig ist. jl
9. Bill Callahan: Gold Record
Sechs Jahre kein Album! Und dann gleich zwei in 14 Monaten! Bill Callahan bleibt der große, unberechenbare US-Folkie mit der fantastischen Bariton-Stimme, von der man sich nur zu gerne ganze Kochbücher vorlesen lassen würde. Und wenn man davon ausgeht, dass sein lyrisches Ich mit dem realen Callahan übereinstimmt, dann gibt es auf „Gold Record“ tatsächlich kulinarische Neuigkeiten: Frühstück ist des Dichters liebste Mahlzeit! Tortillas und Bohnen isst er gern, und einmal die Woche Büffelfleisch!
Das 18. Studioalbum des Singer/Songwriters ist von gewohnt trockenem Humor durchzogen. Callahan reimt „alone“ auf „L. Cohen“ und „straight shooter“ auf „Ry Cooder“ – dass die beiden seine Idole sind, hatte man sich ja eh schon gedacht. Musikalisch hat das nicht die spannungsgeladene Weirdness vergangener Jahrzehnte (auch nicht in der neuen Version seines 20 Jahre alten „Let’s move to the Country“), wirkt aber konzentrierter und harmonischer als zuletzt. Ganz groß: das Pfeifen des herrlich schunkeligen „Cowboy“ im gleichnamigen Song. Platz 9 unserer Septembe-Ausgabe der besten Alben 2020. jp
8. Belako: Plastic Drama
Ein internationales Publikum kennt das Quartett Belako aus dem Baskenland wohl erst, seitdem es im Soundtrack zur vierten Staffel der spanischen Netflix-Hitserie „Haus des Geldes“ aufgetaucht ist. In Spanien sind sie mit ihrem extrem beweglichen Indierock zu Recht bereits Szenelieblinge – ein Status, den sie mit ihrem vierten Album „Plastic Drama“ und ein bisschen Hilfe von Seiten Netflix nun hoffentlich bald auch auf internationaler Ebene einnehmen können.
Der Indie-Entwurf von Belako geht auch auf Album Nummer vier vom ersten Moment an in die Vollen: Der Opener „Tie me up“ ebenso wie die Follow-ups „The Craft“ und „Sirène“ gehören zu den zwingendsten Indierock-Hymnen, die es dieses Jahr zu hören gibt und sollten unbedingt für den Post-Corona-Festivalsommer auswendig gelernt werden. Mit der zweiten Hälfte ihres Viertlings beweisen Belako aber erneut, dass sie auch über das bierselige Festival-Delirium hinaus Bestand haben. So besticht der Titeltrack mit federnden Bässen, 80er-Klavier und Noise-Schlieren, und der Closer „Truce“ ist mit Abstand die schönste Proberaum-Freundschaftshymne, die es je auf eine Platte geschafft hat – damit schaffen es Belako auf Platz acht unserer September-Liste der besten Alben 2020. jl
7. Matmos: The consuming Flame: Open Exercises in Group Form
Wie viele andere Alben werden dieses Jahr mit einer einordnenden Grafik veröffentlicht? E-Mails mit Beispielen bitte an jlara@bunkverlag.de. Jenseits des konzeptuell-experimentellen Duos Matmos aus Kalifornien lassen sich wohl nicht viele Kandidat*innen erwarten. Ihr Konzept diesmal: 99 Kollaborateur*innen einladen, Daniel Lopatin oder Mitglieder von Yo La Tengo etwa, und ihnen keinerlei Vorgaben beim Gestalten der gemeinsam erarbeiteten Tracks geben, als das Ergebnis konstant bei 99bpm zu halten.
Was wie ein prätentiöses Gimmick klingt – welcher Fan der Kalifornier würde ihnen das schon vorhalten? – ist letztlich ein genialer Move. Das insgesamt dreistündige Monsterwerk wird so schlichtweg über den konstanten Flow zugänglich, weswegen alle Aspekte jenseits des Tempos freies Geleit haben. Fiepen, Knattern, Rödeln, Ambient-Geriesel, verhackstückte Jingles und Field Recordings? Immer her damit. „The consuming Flame“ klingt, als würde man das Internet hören. Auch da sind drei Stunden ja im Nu vorbei – und manchmal berührender als erwartet. Platz sieben unserer Liste der besten Alben im September 2020. jl
6. Drew McDowall: Agalma
„Industrial music for industrial people“ lautete einst der von Throbbing Gristle geprägte Slogan der Industrial-Szene, zu der Drew McDowall als Teil von Psychic TV und vollwertiges Mitglied von Coil einen maßgeblichen Teil beigesteuert hat. Seither hat der Musiker aus Schottland etliche Kollaborationen mit szeneverwandten Größen wie Puce Mary, Varg, Drab Majesty oder Azar Swan bestritten.
Sein Solowerk schlägt jedoch oftmals noch in eine ähnliche Kerbe wie die seines langjährigen Weggefährten John Balance von Coil, und so erinnert sein sechstes Soloalbum „Agalma“, Platz sechs unserer Liste der besten Alben im September 2020, auch an Coil-Spätwerke wie das fragmentarische „The Ape of Naples“ – nicht zuletzt, weil McDowall wie auch Balance in den späten Jahren von Coil vermehrt elektronische Elemente mit organischen Sounds wie Marimba und Orgel vermischt. „Agalma“ ist eine vereinnahmende Meditation über die Schnittstellen des Heiligen und des Profanen: einzigartig und ebenso zwingend wie zeitgemäß. Post-industrial music for post-industrial people. jl
5. Grant Pavol: About a Year
Starten wir die Top 5 unsere September-Liste der besten Alben 2020 mit einer Neuentdeckung: Fans von Phoebe Bridgers sollten unbedingt auch Grant Pavol für sich entdecken. Der Singer/Songwriter aus Philadelphia hat bereits mit 15 begonnen, Musik zu machen, und legt nach der EP „Okay“ nun sein Debütalbum vor – und wäre da nicht Phoebe Bridgers’ „Punisher“, er wäre die Songwriter-Entdeckung des Jahres. Wo wir schon bei Referenzen sind: Der Vollständigkeit halber sollten hier auch Elliott Smith und Sufjan Stevens erwähnt werden.
Was Pavol seinen Vorbildern allerdings voraus hat – auch der wundervollen Phoebe – ist, wie er Songwriter-Folk und Country mit HipHop-Beats und elektronischem Bedroom-Pop kreuzt, ohne dabei die herrlich entrückte Grundstimmung in Gefahr zu bringen. Dazu schreibt er schlicht und ergreifend ganz wundervolle Texte, wie das seinem Großvater gewidmete „Bones“, mit formvollendeten Zeilen wie „We all desaturate/Nude pith descends to grey, fading away“. Pavol hat „About a Year“ in circa einem Jahr und im Alleingang in seinem Studentenwohnheim aufgenommen. Geben wir ihm noch eins, und er zieht mit Phoebe gleich. jl
4. Erregung Öffentlicher Erregung: EÖE
Da ist das traurige Gesicht des Kollegen, der sich nach 40 Jahren die ersten beiden Alben von Ideal ein zweites Mal gekauft hat – und dann feststellen musste, dass sie in echt doch stärker gealtert sind als in seiner Erinnerung. Ihm sei Erregung Öffentlicher Erregung empfohlen, denn die Stimme von deren Sängerin Anja Kasten wird nicht nur immer wieder mit der jungen Annette Humpe verglichen. Der Postpunk-Entwurf des zwischen Hamburg und Berlin pendelnden Quintetts schafft es auch, die Energie, den Trotz und den Dada-Humor der Neuen Deutschen Welle ins 21. Jahrhundert zu transformieren.
So wie sie nach diversen EPs auf dem Debütalbum mit Songs wie „Da wo wir am schönsten sind“ und „Kacke in der Jacke“ thematisieren, auch mit Mitte 30 noch nicht zu wissen, wie das Leben weitergehen kann, findet das auch den leidenschaftlichen Zuspruch von H.P. Baxxter: „Mich persönlich erinnert die Musik an meine Jugend, als es noch völlig normal war, seine Wut musikalisch zum Ausdruck zu bringen, eine klare Meinung zu äußern und gegen den Strom zu schwimmen.“ Da ist die Vorstellung, dass der Kollege fortan mit dem Scooter-Shouter um die Wette strahlt. Unser Platz vier der September-Liste der besten Alben 2020. cs
3. Sprain: As lost through Collision
Lange hat laute Gitarrenmusik von frustrierten, bis zur Gelähmtheit wütenden jungen Menschen nicht mehr so dringlich, aufregend und richtungsweisend geklungen, wie bei dem kalifornischen Quartett Sprain. Alex Kent, April Gerloff, Alex Simmons und Max Pretzer mögen in dieser Konstellation erst seit knapp zwei Jahren zusammenspielen, doch in der Zeit haben sie es bereits geschafft, sich all ihrer Einflüsse vollends zu bemächtigen; so gießen sie ihren infektiösen Missmut in immer neue Aggregatzustände.
Bereits auf dem grandiosen Opener „Slant“ changieren Sprain mühelos zwischen fiebrig zuckendem Postpunk mit dräuenden Feedback-Drones und schütterem Post-Hardcore, der nicht nur in Sachen Stimmung an Genre-Legenden wie Slint erinnert. Im weiteren Verlauf beziehen sie auch noch fahrige Free-Jazz-Bläser in ihren Sound mit ein („Worship House“) oder beweisen auf dem beinahe neunminütigen Verzweiflungs-Höhepunkt „My Way out“, dass sie den lodernden emotionalen Kern ihrer Musik auch in nahezu vollkommener Stille entzünden können. Ein Meilenstein – und Platz drei unserer List der besten Alben 2020. jl
2. Everything Everything: Re-Animator
Zweifel sind beim fünften Album von Everything Everything durchaus berechtigt, denn so spannend die Band aus Manchester zuletzt auch mit Elektronik und innovativer Produktion den angezählten Indiebandsound umgangen hat, fehlten Alben wie „Get to Heaven“ und „A Fever Dream“ eben doch die wirklich guten Songs. Bei „Re-Animator“ war das Songwriting wieder stärker im Fokus – und so reichen allein der Opener und das finale Stück, um jegliche Bedenken zu zerstreuen: Am Anfang steht mit „Lost Powers“ ein Song, dessen Unwiderstehlichkeit sich allein aus der Gesangsmelodie speist und bei dem Sänger Jonathan Higgs sein Falsett so wohlklingend wie nie zuvor zum Einsatz bringt.
Am Ende dagegen drehen Everything Everything voll auf, indem sie mit „Violent Sun“ eine Stadionhymne raushauen, die sowohl von New Order als auch von Bruce Springsteen inspiriert ist – und auch das funktioniert ohne Peinlichkeit. Plötzlich ist Innovation nicht mehr nur Selbstzweck und Pathos nicht nur wieder salonfähig, sondern sogar cool. So abgegriffen und unoriginell diese Referenz auch sein mag, passt sie hier doch einfach zu gut: „Re-Animator“ ist das beste Radiohead-Album seit „In Rainbows“. Und Platz zwei der besten Alben im September 2020. cs
1. Sophie Hunger: Halluzinationen
Mit wem ginge ein Neuanfang besser als mit Dan Carey, dem Chef des Londoner Spontaneität-als-Sinneszweck-Labels Speedy Wunderground? Gemeinsam haben sich Carey und Sophie Hunger in den Abbey Road Studios eingemietet und Hungers siebtes Album „Halluzinationen“ in einem langen Take eingespielt. Komponiert hat sie die zehn Stücke in der heimischen Küche in Kreuzberg, mit einer spärlichen Instrumentierung aus einem Klavier, einer handvoll Synthesizer und einer Drum-Machine – und entsprechend geisterhaft ist auch das fertige Album geworden, auf dem Dan Carey ihren Skizzen nur hier und da mit Midi-Bässen, Bläsern und Gitarren etwas mehr Körper verleiht.
Und es ist bemerkenswert, wie viele unterschiedliche Stimmungen, wie viel Vielfalt die beiden dem kargen Sound abtrotzen, ohne, dass das Ergebnis ausgestellt wirkt: Der Titeltrack ist ein Bop-Pop-Hybrid mit fiebrig angeschrägten Jazz-Trompeten, „Alpha Venom“ eine treibende Krautrock-Nummer, „Rote Beeten aus Arsen“ ein schwelender Chanson und „Everything is good“ ein lupenreiner, federnder 80er-Synthpop-Banger in Cyndi-Lauper-Manier. Hunger verschleiert allerdings bis zum Closer, der brillanten Klavierballade „Stranger“, warum sie auf „Halluzinationen“ so verloren und suchend klingt, warum die Stimmung immer wieder kippt. Hier klingt Hunger am ehesten nach der Songwriterin, als die sie einst begonnen hat.
Allein am Klavier, von schemenhaften Becken begleitet und feierlichen Chorälen umschmeichelt, betrauert sie das Ende einer Liebe – dann wendet sich der Song ins Euphorische, und man erkennt das vorangegangene Gefühlschaos als die getriebene Erkundung eines neuen Lebens, das dem alten jäh entwachsen ist: „You’re holding my hand like something you learned a long time ago/48 hours, how did we get here, where do we go?/48 hours of hope“, singt Sophie Hunger, und entlässt einen dann ganz plötzlich mit den leichtesten Tönen, die man jemals gehört zu haben vermeint, in eine schöne neue Welt. Unser Favorit der besten Alben im September 2020. jl