Die besten Bücher 2022: Das sind die Romane des Jahres
Was man 2022 gelesen haben sollte: Die besten Bücher des Jahres mit Kim de l'Horizon, Jennifer Egan und Édouard Louis.
Keine Frage, es war ein Drecksjahr – doch literarisch kann sich 2022 durchaus sehen lassen. Mit neuen Roman von Jennifer Egan, Édouard Louis, Hanya Yanagihara, Joshua Cohen und Thomas Melle ist die Endabrechnung spannend: Wer führt unsere Liste der besten Bücher 2022 an? Zudem treffen zwei herausragende Bücher aufeinander, die beide auch auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2022 gestanden haben. Im Oktober konnte sich Kim de l’Horizon gegen Fatma Aydemir durchsetzen. Wird das auch auf unserer Liste der besten Bücher 2022 so sein?
Die besten Bücher 2022
25. Heinz Strunk: Ein Sommer in Niendorf
24. Jan Costin Wagner: Am roten Strand
23. Sibylle Berg: RCE
22. Andrea Abreu: So forsch, so furchtlos
21. Hendrik Bolz: Nullerjahre – Jugend in blühenden Landschaften
20. Percival Everett: Erschütterung
US-Autor Percival Everett zählte zu den Finalisten des Pulitzer-Preises 2021. In „Erschütterung“ erzählt er von dem Paläontologen Zach Wells, der Idealen misstraut: An der Uni setzt sich der Afroamerikaner nicht für Gleichberechtigung ein, und seine Ehe ist erkaltet. Doch als seine geliebte Tochter eine schlimme Diagnose erhält, reist er plötzlich in die Wüste New Mexicos, um zwei Frauen zu retten, die in einer Lagerhalle zum Arbeiten gezwungen werden. Mit „Erschütterung“ hat es Percival Everett auf unsere Liste der besten Bücher 2022 geschafft.
Hanser, 2022, 288 S., 23 Euro
Aus d. Engl. v. Nikolaus Stingl
19. Hanya Yanagihara: Zum Paradies
„Zum Paradies“ von Hanya Yanagihara hat all das, was die 47-jährige US-Amerikanerin bisher ausgezeichnet hat: die geschickt gesetzten Cliffhanger, das bis kurz vor die Grenze zum Kitsch übersteigerte Drama, die opulenten Beschreibungen. Doch die komplexe chronologische Struktur, die bis ins Jahr 2093 reicht, lässt die Lektüre lange nachklingen.
Claassen, 2022, 896 S., 30 Euro
Aus d. Engl. v. Stephan Kleiner
18. Katerina Poladjan: Zukunftsmusik
Es ist der 11. März 1985, und durch Moskau weht ganz leicht der vielbesungene Wind of Change: Staatschef Tschernenko ist gestorben, sein Nachfolger heißt Michail Gorbatschow. Noch allerdings ist die Sowjetunion Realität, auch in der Gemeinschaftswohnung, in der vier Generationen von Frauen zusammenleben: Großmutter Warwara, Mutter Maria, Tochter Janka und die kleine Enkelin Kroschka. An diesem schicksalshaften Tag schlagen sie sich mit Alltagsproblemen herum. Die tiefgreifenden Veränderungen, die ihren Figuren bevorstehen, deutet Katerina Poladjan nur indirekt an, indem sie den ganzen Roman mit einer hintergründig vergnügten Aufbruchsstimmung unterlegt, die nach und nach sogar das Narrativ selbst erfasst und in unerklärlichen, traumartigen Sequenzen mündet. Und das ergibt Platz 18 auf unserer Liste der besten Bücher 2022.
S. Fischer, 2022, 192 S., 22 Euro
17. Amor Towles: Lincoln Highway
Juni 1954: Die Brüder Emmett und Billy Watson sind auf sich allein gestellt: Vater tot, Mutter weg. Nachdem Emmett aus dem Jugendknast entlassen wird, schreit alles nach einem Neuanfang. Also heißt es: raus aus Texas. Sie machen den 1948er Studebaker fit und peilen Kalifornien an, wo sie ihre Mutter vermuten. Also rauf auf den „Lincoln Highway“, der einmal ganz von der Ost- bis an die Westküste der USA reicht. Doch wirklich weit kommen die beiden nicht, denn plötzlich tauchen mit Duchess und Woolly zwei Knastbekanntschaften von Emmett auf. Das Reiseziel wird kurzerhand geändert – es geht nach New York. Die Fahrt über die erste Autobahn Amerikas wird zu einer echten Odyssee, die mal brüllend komisch, mal unglaublich bewegend ist. Die vier vaterlosen Jungen entwickeln eine mitreißende Dynamik, die sie von einer gefährlichen Situation in die nächste manövriert.
Hanser, 2022, 576 S., 26 Euro
Aus d. Engl. v. Susanne Höbel
16. Theresia Enzensberger: Auf See
Ja, „Auf See“ ist eine theorielastige Spiegelung der Gegenwart, doch wer bei der momentanen Flut literarischer Endzeitszenarien womöglich nur ein einziges Mal zuschlägt, sollte diese so immens wichtige Abrechnung mit neoliberalem Gedankengut wählen. Enzensberger erzählt von der 17-jährigen Yada, die in einer Sonderwirtschaftszone auf der Ostsee lebt. Yadas Vater, ein libertärer Tech-Unternehmer, hat die Seestatt als Rettung vor dem Chaos entworfen, in dem die übrige Welt versinkt. Als Yana entdeckt, dass ihr Vater sie belügt und das elitäre Leben in seiner autarken Stadt auch nur über Ausbeutung funktioniert, entschließt sie sich zur Flucht aufs Festland. Hier lebt auch die Künstlerin Helena, die es mehr oder weniger zufällig zu einer Art Sektenguru gebraucht hat und ein zwar unbedarftes aber eben auch komplett verantwortungsloses Spiel mit ihren Anhänger:innen treibt …
Hanser, 2022, 272 S., 24 Euro
15. Lauren Groff: Matrix
Die nur als Marie de France bekannte Dichterin hat im 12. Jahrhundert gelebt und überraschend progressive Verse geschrieben – mehr wissen wir nicht über sie. Eine perfekte Vorlage für Lauren Groff, die der historischen Marie in „Matrix“ eine fiktive Geschichte an den Hals dichtet: Als entfernte Verwandte von Eleonore, Königin von Frankreich und England, wird sie zur Priorin eines englischen Klosters ernannt – für die sture 17-Jährige wie eine Verbannung. Doch mit den Jahren gelingt es Marie, nicht nur zum Glauben zu finden, sondern auch immer mehr Einfluss zu gewinnen. Ihr unkonventionelles Vorgehen und der grenzenlose Ehrgeiz schockieren nicht nur die Krone, sondern auch das Volk, doch im Kloster wächst derweilen eine abgeschottete, aber doch freie Gemeinschaft heran, in der Frauen weitaus mehr Macht haben als in er weltlichen Gesellschaft.
Claassen, 2022, 320 S., 24 Euro
Aus d. Engl. v. Stefanie Jacobs
14. Garth Greenwell: Reinheit
„Wir können uns nie sicher sein, was wir wirklich wollen. Wir können uns nie der Authentizität unseres Begehrens sicher sein, denke ich, der Reinheit in Bezug auf uns selbst.“ Garth Greenwell schließt an seinen Debütroman „Was zu dir gehört“ an, indem er seinen namenlosen Ich-Erzähler durch Sofia streifen lässt. Bald wird der US-Amerikaner seine Lehrtätigkeit beenden und das Land verlassen, und noch einmal reflektiert er die Begegnungen, die ihn in dieser Zeit geprägt haben: Auf ein Gespräch mit einem seiner Schüler über das so absolute, aber unerwiderte erste Begehren folgt ein SM-Date, dessen Grenzgang zwischen Lust und Grausamkeit er mit pornografischer Genauigkeit seziert.
Wenn Greenwell die Liebe des Protagonisten und seine Beziehung zu R. mit Toilettensex kontrastiert, geht es ihm immer auch um die Lebensumstände der LGTBQIA*-Community in Bulgarien. Doch vor allem sind die Erzählungen von „Reinheit“ eine Kartografie des Begehrens, in der Greenwell so zart und zugleich so kompromisslos und grausam über Sex schreibt.
Claassen, 2022, 302 S., 23 Euro
Aus d. Engl. v. Daniel Schreiber
13. Sven Pfizenmaier: Draußen feiern die Leute
Nie wieder ein Coming-of-Age-Roman über das Aufwachsen in der deutschen Provinz? Hier sind drei Gründe, warum das Debüt des in Celle geborenen Sven Pfizenmaier doch noch geht:
1. Er überzeichnet seine Helden, etwa Richard, der so langweilig ist, dass alle in seiner Nähe in Lethargie verfallen. Dennoch kommen Richard und all die anderen dem Lesenden emotional sehr nah.
2. Es gibt einen spannenden Plot, weil immer mehr Jugendliche aus der Kleinstadt spurlos verschwinden. Zu tun hat das wohl mit dem legendären Drogendealer Rasputin in Hannover.
3. Pfitzenmaier weitet den Blick und kümmert sich nicht nur um weiße Mittelschichtskids, indem er auch das Russen-Trio Dima, Danik und Doktor Dobrin ins Romanensemble integriert. Und auch hier schimmert hinter dem Slapstick eine sehr sensible Auseinandersetzung mit vermeintlich vorgezeichneten Lebensläufen und Vorurteilen durch. Mit „Draußen feiern die Leute“ schafft es Sven Pfizenmaier auf Platz 13 unserer Liste der besten Bücher 2022.
Kein & Aber, 2022, 336 S., 24 Euro
12. Yade Yasemin Önder: Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron
Trauen sollte man der namenlosen Icherzählerin besser nicht, doch was als einigermaßen gesichert gilt: Sie wird ein Jahr nach Tschernobyl geboren und wächst in einer deutschen Kleinstadt auf. Als sie acht Jahre alt ist, stirbt ihr Vater, ein schwer übergewichtiger Türke, bei einem Unfall, für den sich die Protagonistin die Schuld gibt. Das Verhältnis zur deutschen Mutter ist schwierig, sie erkrankt an Bulimie, kommt in eine Reha-Einrichtung, bricht die Behandlung jedoch vorzeitig ab und stürzt sich auf der Suche nach Halt und Geborgenheit in wahllose Sex-Abenteuer.
Mit ihren Debütroman hat die 1985 in Wiesbaden geborene Yade Yasemin Önder bereits vor vier Jahren beim Open Mike gewonnen, damals noch unter dem Titel „bulimieminiaturen“. Auch jetzt ist der Text noch zersplittert – und doch hat Önder ihm eine spektakuläre Dramaturgie verpasst. Ihre Heldin wütet zornig und aggressiv, sie springt in der Zeit, übertreibt, will bestimmte Sachverhalte nicht preisgeben und verschanzt sich dafür hinter wunderbar absurden Metaphern. Doch Önder federt ihre schweren Themen auch mit sehr viel Humor ab. Vor allem aber sorgt sie dafür, dass beim Zusammensetzen der Splitter auch eine sehr zarte, verletzliche Heldin erkennbar wird.
Kiepenheuer & Witsch, 2022, 256 S., 20 Euro
11. Lucy Fricke: Die Diplomatin
Mit ihrem letzten Roman gelang Lucy Fricke vor fünf Jahren endlich der so verdiente große Erfolg, und „Töchter“ wurde auch sogleich mit Birgit Minichmayr und Alexandra Maria Lara fürs Kino verfilmt. Wenn die 48-Jährige nun nachlegt, scheint ihre fünfte Veröffentlichung ganz weit weg von der gefeierten Roadnovel über zwei Frauen und ihre Väter: „Die Diplomatin“ ist ein politischer Roman, dessen Aktualität derzeit leider täglich von den Nachrichten bestätigt wird. Im Zentrum steht Friederike Andermann, die als deutsche Botschafterin in Istanbul arbeitet. Hier hat sie es mit inhaftierten Künstler:innen zu tun – und dann lässt sie sich auch noch auf eine Affäre mit einem deutschen Journalisten ein, der von der türkischen Justiz gesucht wird. Doch ist es gerade diese, von allen nur Fred genannte Protagonistin, die eine Verbindungslinie zu Frickes bisherigem Œuvre zieht: Sie hat diesen für die Autorin so typischen trockenen Humor, der hier die staatstragenden Rituale und ihre Verlogenheit, das diplomatische Geschwafel und den Zynismus der Kolleg:innen offenlegt. „Ich stehe da nur rum und bin Deutschland“, sagt Fred etwa, wenn wieder mal irgendein Empfang ansteht. „Die Diplomatin“ von Lucy Fricke belegt Platz 11 auf unserer Liste der besten Bücher 2022.
Claassen, 2022, 256 S., 22 Euro
Die besten Bücher 2022
Top Ten
10. Joshua Cohen: Witz
Joshua Cohens Mammutroman steckt voller extremer und absurder Einfälle: An Weihnachten 1999 stirbt die jüdische Weltbevölkerung über Nacht aus – bis auf Benjamin Israelien aus New Jersey, eine Woche vor dem großen Sterben zur Welt gekommen, voll ausgewachsen, mit Bart und Brille und ständig abfallender und wieder nachwachsender Vorhaut. Das Buch zeichnet seine Reise nach, auf der ihn die Regierung erst zur Kultfigur macht, bevor er in Ungnade fällt und um sein Leben fliehen muss. Trotz irren Humors und sperriger Sprachwitze geht es Cohen hier um ein denkbar ernstes Thema: den Holocaust, den Cohen auf eigenwillige, aber vielleicht die einzig mögliche Weise verarbeitet. Übersetzt von Ulrich Blumenbach, der schon „Unendlicher Spaß“ ins Deutsche übertragen hat, schafft es Joshua Cohen in die Top Ten auf unserer Liste der besten Bücher 2022.
Schöffling, 2022, 912 S., 38 Euro
Aus d. Engl. v. Ulrich Blumenbach
9. Jennifer Egan: Candy Haus
Mit „Der größere Teil der Welt“ hat Jennifer Egan im Jahr 2010 den Pulitzer gewonnen und der internationalen Kritik den Kopf verdreht: postmodern, aber nie prätentiös, bewegend, aber nie kitschig, fantasievoll, aber nie abgehoben. In „Candy Haus“ kehrt sie nun mehr als ein Jahrzehnt später zu denselben Figuren zurück, und zunächst regen sich Zweifel: Warum ein so riskantes Vorhaben, an dem schon Meister wie David Mitchell gescheitert sind? Sind der US-Amerikanerin schlicht die Ideen ausgegangen? Aber Egans Werk ist auf eine Art ungewöhnlich, die ein Anknüpfen nicht nur verzeihlich, sondern fast logisch wirken lässt. „Der größere Teil der Welt“ besteht aus 13 ursprünglich separat konzipierten Geschichten, die zwar alle miteinander verbunden sind, aber auch allein funktionierten.
S. Fischer, 2022, 416 S., 26 Euro
Aus d. Engl. v. Henning Ahrens
8. Juri Andruchowytsch: Radio Nacht
Dass ein Leben in der Nacherzählung zu einem sonderlichen Märchen werden kann, muss auch der erzählende Biograf in Juri Andruchowytschs neustem Roman feststellen. „Radio Nacht“ ist ein wundersames Sammelsurium aus Josip Rotskys Leben – ehemaliger Porno- und Rockstar, Meisterpianist, Revoluzzer, Attentäter und Radio-DJ. Fröhlich wechseln die Erzähltechniken, und so folgen wir mal dem Biografen auf seinen Recherchen, stolpern mitten im Roman über ein Theaterskript, lauschen gebannt Rotskys nächtlicher Radioshow und begleiten ihn im revolutionären Aufstand, ins Gefängnis, ins Exil und in eine verhängnisvolle Beziehung. Lady Gaga und Greta Thunberg tauchen neben Mephisto und Robert Walser auf, und die Referenzen überschlagen sich zwischen Edgar Allan Poe, David Bowie, Trotzki, Brodsky und Joseph Roth.
„Radio Nacht“ ist ein schelmisch poetischer Roman über Flucht, ein allgegenwärtiges Grundrauschen der Gefahr in Osteuropa und zugleich auch eine Ode an die Popkultur und die große Zeit des Radios. Ein QR-Code gibt den Leser:innen die Möglichkeit, den nächtlichen Soundtrack Rotskys nachzuhören, und obwohl Orte wie Charaktere frei erfunden sind, ist der Ukrainekrieg fühlbar. Umso bemerkenswerter, dass Andruchowytschs Originalausgabe bereits 2021 erschienen ist. Platz acht auf unserer Liste der besten Bücher 2022.
Suhrkamp, 2022, 472 S., 26 Euro
Aus d. Ukrainisch. v. Sabine Stöhr
7. Kim de l’Horizon: Blutbuch
„Wie sehen Texte aus, wenn nicht ein menschliches Mustersubjekt im Zentrum steht und die Welt begnadet ins Förmchen goethet?“ In dem mit dem Deutschen Buchpreis 2022 ausgezeichnetem Debüt „Blutbuch“ macht sich Kim de l’Horizon auf die derzeit wohl radikalste Identitätssuche in der Literatur – und das bedeutet eben auch, dass der bisherige Blick auf die Familie aufgearbeitet werden muss. Eine nonbinäre Erzählfigur erinnert sich an die Kindheit in einem Berner Vorort und macht sich ausgelöst durch die Demenzerkrankung der Großmutter an eine ganz und gar eigenwillige Familienchronik. Ein Leitmotiv ist die vom Großvater im Garten gepflanzte Blutbuche: Der von seinem Umfeld als Junge gelesene Kim lässt sie in seiner Vorstellung in sich wurzeln, um die innere Leere zu füllen.
Doch bleibt es nicht bei betulichen Kindheitserinnerungen: Immer wieder wechselt die Erzählfigur den Ton und die Perspektive. Als offen queer lebendes Subjekt sucht sie später die philosophische Durchdringung, spiegelt Fragilität und die Angriffe auf den nonbinären Körper durch die in der Kindheit gehörten Geschichten über Hexenverfolgung – und gebärt schließlich selbst in einem futuristischen Rap. Analsex steht hier neben Derrida-Reflexionen, rauschhaftes Erzählen folgt auf verschwurbeltes und dennoch hochinteressantes Reflektieren. Kim de l’Horizon selbst spricht von „écriture fluide“ – und der chaotische, so überfordernde Text funktioniert, weil er einer Dramaturgie des Erfühlens folgt.
Dumont, 2022, 336 S., 24 Euro
6. Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen
Mit 31 ist Mohamed Mbougar Sarr nicht nur einer der jüngsten Gewinner:innen des wichtigsten französischen Literaturpreises, sondern zum allerersten Mal ging der Prix Goncourt 2021 an eine:n Autor:in aus Subsahara-Afrika. In „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ verhandelt er die Liebe zur Literatur, das Bedürfnis zum Schreiben – und die Rezeption afrikanischer Schriftsteller:innen im westlichen Raum: Dem jungen Senegalesen Diégane Latyr Faye fällt das verschollen geglaubte Kultbuch „Das Labyrinth der Unmenschlichkeit“ eines gewissen T.C. Elimane aus dem Jahr 1938 in die Hände. Fasziniert von diesem Meisterwerk macht sich Diégane auf die Suche nach seinem Landsmann und Schriftstellerkollegen, der zunächst als „schwarzer Rimbaud“ gefeiert wurde, nach Plagiatsvorwürfen und rassistischen Anfeindungen aber untergetaucht ist … Mbougar Sarr erzählt auf verschiedenen Stilebenen, er baut Briefe, Zeitungsartikel, Tagebücher und Augenzeug:innenberichte ein und verdichtet seine Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus zu einem unsagbar spannenden Krimiplot.
Hanser, 2022, 448 S., 27 Euro
Aus d. Franz. v. Holger Fock u. Sabine Müller
5. Nino Haratischwili: Das mangelnde Licht
Eine Ausstellung in Brüssel bringt drei Freundinnen wieder zusammen: Keto, die Erzählerin, die obsessive Chronistin der Vergangenheit; die romantische Nene, die trotz aller Traumata unverwüstlich geblieben ist; und die ernsthafte Ira, die bis heute unter ihrer unerwiderten Liebe zu Nene leidet. Gemeinsam sind sie im Tbilissi der 80er und 90er aufgewachsen und haben den Fall der Sowjetunion, Sezessionskriege, Hungersnöte und Bandenkriminalität erlebt. Ihre Heldin während dieser Zeiten war Dina, die selbstbewusste und furchtlose Anführerin – die am Ende den Kampf verloren hat. Es sind ihre Fotografien, die hier ausgestellt sind, und die Ketos Erinnerungen wecken. Sie hangelt sich von Bild zu Bild und denkt an früher: die idyllische Kindheit, die turbulente Jugend, das schmerzhafte Erwachsenwerden.
Nino Haratischwilis „Das mangelnde Licht“ beginnt als altmodischer Schmöker: geduldig, detailliert und so unterhaltsam und bunt, dass das Lesen wie von allein passiert. Ihre Beschreibungen der Kindheit der vier Freundinnen lassen sie und ihre Umgebung zu fast greifbarem Leben erwachen. Doch diese gemütlichen Anfänge lassen die endlose Spirale aus Leid und Gewalt, die Keto, Dina, Nene und Ira nur allzu bald erfasst, umso intensiver wirken: Wenn Nene zwangsverheiratet wird und ihr Mann ihren Liebhaber ermordet, wenn Dina als Kriegsfotografin ihr Leben riskiert, wenn das Heroin ihre Welt zu erobern beginnt, wenn Keto sich täglich die Oberschenkel ritzt – wir fühlen mit, weil wir sie zu kennen meinen, seit sie Kinder waren. „Das mangelnde Licht“ steht auf unserer Liste der besten Bücher 2022 auf Rang fünf.
Frankfurter Verlagsanstalt, 2022, 832 S., 34 Euro
4. Hendrik Otremba: Benito
Im Jahr 1995 geht eine Pfadfindergruppe auf eine dreiwöchige Kanufahrt. Unter ihnen ist der elfjährige Cherubin und ein blinder Junge mit dem Fährtennamen Benito. Doch es geschieht ein schreckliches Unglück, und der Ausflug wird für die Pfadfinder zu einem surrealen Alptraum. Gut 30 Jahre später stürmt ein maskierter Mann einen Empfang im Bonner Hotel Paradies und feuert wahllos in die Menschenmenge. Unter den Gästen aus Wirtschaft und Showgeschäft ist auch Cherubin, mittlerweile ein erfolgreicher Schriftsteller: Er meint, den vermeintlichen Attentäter zu erkennen, von dem sich im Nachhinein rausstellt, dass er nur Platzpatronen geladen hatte …
Mit dem dritten Roman legt Messer-Sänger Hendrik Otremba sein Meisterwerk vor: Eingebettet in einem ungemein spannenden Plot, beschwört er die Geister der Vergangenheit, um Kontinuitäten aufzuzeigen und unsere finstere Gegenwart auszuleuchten. Mit literarischen und philosophischen Exkursen, die auch fiktive Figuren aus Otrembas früheren Romanen einbeziehen, wandelt „Benito“ an der Grenze zwischen Wahnsinn und Erkenntnis.
März, 2022, 504 S., 28 Euro
3. Édouard Louis: Anleitung ein anderer zu sein
Am Anfang war „Das Ende von Eddy“: In dem autobiografischen Roman erinnert sich Édouard Louis an seine Kindheit in prekären Verhältnissen. Er thematisiert das Entdecken der eigenen Homosexualität in einem von Rassismus und Homophobie geprägtem Umfeld, die Flucht aus der nordfranzösischen Provinz und das Abstreifen der alten Identität als Intellektueller in Paris. Ein paar Jahre später folgt eine Aussöhnung mit den Eltern: Louis erklärt in „Wer hat meinen Vater umgebracht“ das gefühlskalte Verhalten des Vaters mit Blick auf das französische Sozialsystem. Und wieder ein paar Jahre später ist der inzwischen 29-Jährige komplett zerrissen: „Ich sehne mich nicht nach der Armut zurück, sondern nach der Möglichkeit einer Gegenwart.“
Mit „Anleitung ein anderer zu werden“ erzählt er von den Kosten seiner radikalen Selbstveränderung und von den Extremen, die er immer wieder sucht, um nur nicht von seinem alten Ich eingeholt zu werden: Er hat Sex mit Männern, die in Hotels wohnen, in denen eine einzige Nacht so viel kostet wie das Jahreseinkommen seiner siebenköpfigen Familie. Selbst als erfolgreicher Literat fühlt er sich nicht angekommen: „Bin ich dazu verdammt, mich immer nach einen anderen Leben zu sehen?“ Der neue Louis ist das schonungsloseste und vielleicht wichtigste Buch über die Identitätssuche. Und es ist eines, das fortgeschrieben werden muss.
Aufbau, 2022, 272 S., 24 Euro
Aus d. Franz. v. Sonja Finck
2. Thomas Melle: Das leichte Leben
Ganze sechs Jahre sind seit „Die Welt im Rücken“ vergangen. Thomas Melle ging es nach der Veröffentlichung des autobiografischen Buchs über seine manisch-depressive Erkrankung erneut nicht gut, und so legt er erst jetzt den Roman vor, der ihn endgültig als derzeit wichtigsten Autoren dieses Landes etabliert: Mit „Das leichte Leben“ seziert der 47-Jährige eine festgefahrene bürgerliche Beziehung. Die zweifache Mutter Kathrin reaktiviert ihr Begehren mit Sexpartys und Pornos, zudem weckt ein 15-jähriger Schüler das Interesse der Aushilfslehrerin. Kathrins Ehemann Jan fickt zwar auch eine Praktikantin, doch deutlich mehr Eindruck hinterlassen bei dem erfolgreichen Journalisten die Fotos eines nackten Jungen, die er aufs Handy gespielt bekommt: Sie zeigen ihn selbst, als er noch auf ein katholisches Internat gegangen ist … Verzweiflung, Aggression, Macht: Völlig unpeinlich und realitätsnah über Sex zu schreiben, ist eine Sache, doch wenn bei Melle Körperflüssigkeiten verspritzt werden, geht es immer auch um gesellschaftliche Zeitdiagnostik. „Das leichte Leben“ holt auf unserer Liste der besten Bücher 2022 den zweiten Platz.
Kiepenheuer & Witsch, 2022, 352 S., 24 Euro
Das beste Buch des Jahres 2022
1. Fatma Aydemir: Dschinns
Pathos, vermeintliche Stereotypen, viele nur angerissene Motive, ein mitunter arg konstruiert wirkendes Geheimnis und der verwirrende Bau des Familienromans: Für ihren so wichtigen, weil von der Mehrheitsgesellschaft stark abweichenden Blick auf deutsche Alltags- und Arbeitswelten riskiert Aydemir viel – doch ist es gerade die Polyphonie, die immer wieder die Verbindungslinien zur Gegenwart aufscheinen lässt. Das Figurenensemble profitiert von dem Planspiel, mit den gegenwärtigen Diskursen über Identität auf die 90er zu blicken, denn in ihrem Kampf mit Rassismus, Homophobie, Patriarchalismus und Sexismus lösen sich vor allem Ümit, Sevda und Perihan immer wieder ganz unerwartet aus dem Schatten der Platzhalter – mit Sätzen, die sich umso nachhaltiger bei den Leser:innen einbrennen.
Hanser, 2022, 368 S., 24 Euro
Das beste Buch des Jahres 2022 ist „Dschinns“ von Fatma Aydemir. Hier geht es auch zu unserem Jahresrückblick 2020.