Die besten Bücher 2023: Empfehlungen für den März
Eine spektakuläre Frühjahrssaison hat begonnen: Die besten Bücher im März 2023 mit Virginie Despentes, Clemens J. Setz und Douglas Stuart.
Die Frühjahrssaison startet mit großen Namen: Nach ihrer erfolgreichen „Vernon Subutex“-Trilogie legt Virginie Despentes mit „Liebes Arschloch“ einen überraschend versöhnlichen Roman vor. Schafft sie es dennoch auf die Spitzenposition unserer Liste der besten Bücher im März 2023? Auch Clemens J. Setz ist endlich mit einem neuen Roman zurück: Indem er in „Monde vor der Landung“ von einem historischen Querdenker erzählt, befeuert er natürlich auch hochaktuelle Debatten. Aber kann nicht eigentlich nur Douglas Stuart unsere Liste der besten Bücher im März 2023 anführen? Schließlich ist sein zweiter Roman „Young Mungo“ noch besser als das mit dem Booker Preis ausgezeichnete Debüt „Shuggie Bain“.
Im letzten Jahr hat übrigens Joshua Cohen den Booker Preis bekommen – und natürlich ist sein Campus-Roman „Die Netanjahus“ auch auf einen der vorderen Plätze auf unserer Liste der besten Bücher im März 2023 zu finden. Zudem legt Lana Bastasic nach dem grandiosen Debüt „Fang den Hasen“ mit Erzählungen nach, Markus Orths reist zurück ins England des frühen 19. Jahrhunderts und trifft „Frankenstein“-Autorin Mary Shelly, während es Maddie Mortimer mit einem ganz und gar außergewöhnlichen Debüt auf unsere liste der besten Bücher im März 2023 schafft.
Nina Polak erzählt in „Zuhause ist ein großes Wort“ von einer Protagonistin auf der Suche nach einem antikapitalistischen und feministischen Bewusst sein. Und Vincenzo Latronico hat in diesem Monat ohne jeden Zweifel den besten letzten Satz zu bieten. Doch wie weit bringt ihn der auf unserer Liste der besten Bücher im März 2023?
Die besten Bücher im März 2023
9. Maddie Mortimer: Atlas unserer spektakulären Körper
Erfolgt der Tod in der ersten oder in der dritten Person? Die Antwort gibt Maddie Mortimer in ihrem Debütroman „Atlas unserer spektakulären Körper“ erst ganz am Ende.
Eine Krebsdiagnose veranlasst Lia dazu, die Welt und ihre Vergangenheit neu zu ordnen – während Mortimer die Leser:innen mit der Kraft der Poesie durch den Körper der Familienmutter führt. Fast magisch bahnt sich die sinnliche Sprache dieses Romans ihren Weg: Die Welt und ihre Körper klacken, zischen, prickeln in wunderschönen „Schmatz-Pamp-Glucksern“, und etymologische Ausflüge folgen auf anarchische Ausbrüche: durchgestrichene Sätze, verkleidete Wörter als Treppen, Wellen und Friedenstauben synchronisieren Inhalt mit Form.
Die Perspektive wechselt lange Zeit zwischen Körper (erste Person) und Lia (dritte Person), bis der Tumor schließlich die Überhand gewinnt – und alles miteinander zu verschwimmen beginnt. So öffnet sich eine wabernde Welt zwischen den Dingen, die es der zweiten Person ermöglicht, einzutreten. Diese Dreieinigkeit sollte es sogar schaffen, sich mit Lias strenger, konservativ-christlicher Mutter zu versöhnen.
Atlantik, 2023, 480 S., 25 Euro
Aus d. Engl. v. Maria Meinel
8. Nina Polak: Zuhause ist ein großes Wort
Nach sieben Jahren auf See kehrt Nienke Nauta zurück nach Amsterdam. Zurück zu ihrer reichen Adoptivfamilie. Zurück zu ihrem online-aktivistischen Adoptivbruder, der den Wahnsinn der Stadt in Content verwandelt und zu den richtigen Anlässen „The Future is female“-Shirts trägt. Zurück zu ihrem Ex-Freund mit schriftstellerischen Ambitionen, der Slavoj Žižek liest, Miles Davis hört und seine steinzeitliche Misogynie hinter akademischem Gefasel verbirgt. Zurück in „eine von Alpträumen bevölkerte bürgerliche Hölle unter dem Meeresspiegel“.
Die zynisch zerbrechliche Ich-Erzählerin von „Zuhause ist ein großes Wort“ passt einfach nicht in diese Welt. Nina Polaks zweiter Roman zeigt, wie undurchlässig moderne Klassengesellschaften sind und wie politisches Bewusstsein zum Verkaufsargument eigener Individualität verkommt. Jenes Bewusstsein existiert in Polaks Roman zwar als bloßer Schein im bürgerlichen Gewand – doch immerhin existiert es.
Fragwürdig ist jedoch, wieso Polak die Protagonistin nicht in ihr prekäres Herkunftsmilieu schickt, um dort ein antikapitalistisches, feministisches Bewusstsein zu finden. Gibt es das dort etwa nicht? Fest steht für Polak: Wer ein Zuhause will, braucht eine Mythologisierung seiner selbst. Doch diese braucht Geld – und so bleibt Nienke nur das Meer.
Mare, 2023, 272 S., 23 Euro
Aus d. Niederl. v. Stefanie Ochel
7. Markus Orths: Mary & Claire
England im frühen 19. Jahrhundert: Die jungen Stiefschwestern Mary und Claire lieben das Schreiben und haben von ihrem Vater ein ungewöhnlich progressives Weltbild mitbekommen. Zwei Männer mischen ihr Leben mächtig auf: erst der Dichter Percy Bysshe Shelley, mit dem die Schwestern nach Europa fliehen, bevor Mary ihn heiratet, und dann Lord Byron, in den sich Claire so unsterblich wie unglücklich verliebt.
In einer Sturmnacht am Genfer See beginnt ein literarischer Wettbewerb, bei dem Mary den Jahrhundertroman „Frankenstein“ schreiben wird. Die Geschichte, die Markus Orths in „Mary & Claire“ erzählt, wird – zumindest in ihren groben Zügen – vielen Leser:innen bekannt sein.
Es geht dann auch weniger um die historischen Details, mit denen der Autor ohnehin liberal umgeht, als um Stimmung und Atmosphäre. Orths legt seinen Figuren fast moderne Sprache in den Mund und fängt die Rauschhaftigkeit ein, mit der sie sich über die Normen ihrer Zeit hinwegsetzen. Der Dualismus im Titel taucht immer wieder als Stilmittel auf, indem Orths Gegensatzpaare ins Zentrum rückt: Leben und Tod, hell und dunkel, Sturm und Drang.
Bemerkenswert, wie Orths um eine Gruppe Menschen, die vor allem für düstere Texte bekannt ist und zahllose Schicksalsschläge durchmacht, einen derart lebendigen, ja lebensbejahenden Roman aufbaut.
Hanser, 2023, 304 S., 26 Euro
6. Vincenzo Latronico: Die Perfektionen
„Dass Sie, der Sie dies lesen, dies lesen, ist fast schon ein Beweis: ein Beweis dafür, dass Sie dazugehören“. Mit diesem Zitat beendet Vincenzo Latronico seinen Großstadtroman „Die Perfektionen“ – und entwaffnet damit nicht nur seine Hauptfiguren Anna und Tom.
Der deskriptive Roman porträtiert ein nach Berlin gezogenes Pärchen und den diffusen Traum einer ganzen Generation: Anna und Tom sind Digital Designer – Unterschiede herzustellen, ist ihr Job und die helle, von Pflanzen gesäumte Altbauwohnung ihr Büro. Geshoppt wird in Manufakturen, gekocht nur international und gefickt nie hegemonial. Das politische Engagement der beiden beschränkt sich auf den Verzicht auf Uber und Thunfisch, und das Ketamin ist schneller besorgt als der Meldebescheid.
Latronicos nüchterner Roman lässt sich als Milieu-Studie einer urbanen Gruppe lesen, die zwischen all den durchgestylten Distinktionsanstrengungen und verzweifelten Versuchen, das Ursprüngliche wieder herzustellen, voll und ganz in der spätkapitalistischen Verwertungslogik aufgeht, die das Singuläre prämiert und Gentrifizierung reproduziert.
Claassen, 2023, 128 S., 22 Euro
Aus d. Ital. v. Verena von Koskull
5. Joshua Cohen: Die Netanjahus
In „Witz“, seinem zuletzt auf Deutsch erschienenen Roman, hat Joshua Cohen sich dem Holocaust mithilfe einer bis ins Unverständliche verdrehten Sprache und surrealen Humors genähert. Sein neues Buch liest sich vergleichsweise konventionell, ist im Kern jedoch ähnlich gewagt: Basierend auf einer Anekdote des verstorbenen Kritikers Harold Bloom beschreibt er eine Begegnung des fiktiven Geschichtsprofessors Ruben Blum mit dem israelischen Gelehrten Ben-Zion Netanjahu, Vater des späteren Ministerpräsidenten.
Das Jahr ist 1959, und Netanjahu hat sich auf einen Platz an Rubens College in New York beworben. Blum soll nicht nur Teil der Kommission sein, sondern sich auch um Netanjahus Unterkunft kümmern – nur, weil sie beide jüdisch sind. Überraschend reist Netanjahu mit seiner Frau und seinen drei Söhnen an und stellt nicht nur Rubens Haus auf den Kopf … Der Roman ist voll von Cohens Markenzeichen: einer dichten Sprache und Humor zwischen Slapstick und Farce, etwa wenn sich Rubens Tochter absichtlich die Nase bricht.
Doch dahinter versteckt sich eine differenzierte Auseinandersetzung mit amerikanischem Antisemitismus, auch und besonders im liberalen, akademischen Milieu – und ganz besonders in den Köpfen der eigentlichen Opfer. Wenn Ruben zum Schluss behauptet, seine chaotischen Gäste kämen aus der Türkei, ist das eine zugleich bitterböse und tieftraurige Pointe. In den USA hat Cohen für diesen Campus-Roman den Pulitzer-Preis gewonnen. Was Benjamin Netanjahu von dem Buch hält, ist bisher nicht bekannt.
Schönling, 2023, 288 S., 25 Euro
Aus d. Engl. v. Ingo Herzke
4. Lana Bastašić: Mann im Mond
„Ich brauchte ganz schön lange, um Papa zu erwürgen.“ Mit diesem Wahnsinnssatz eröffnet Lana Bastašić die erste von zwölf Kurzgeschichten, die sich allesamt mit der Kindheit befassen – wie der Eingang vermuten lässt, vor allem mit ihren Abgründen.
Die bosnische Autorin serviert keine leichte Kost: In jeder Geschichte werden Kinder misshandelt, schikaniert, ignoriert, von pädophilen Großtanten, drogensüchtigen Müttern oder gewalttätigen Vätern. Und wenn sie zurückschlagen, dann mit der Wut der Verzweiflung. Manchmal erzählt Bastašić ganz nüchtern, dann lässt sie unmerklich Magie einfließen, immer stecken ihre Erzählungen voller poetischer, detaillierter Bilder.
Dabei sind Politik und Geschichte weniger zentral als in ihrem grandiosen Debütroman „Fang den Hasen“; trotzdem ist jederzeit klar, dass die Gewalt nur ein Symptom einer verwahrlosten Gesellschaft ist. Und Bastašić erweist sich erneut als eine der furchtlosesten Autorinnen Europas.
S. Fischer, 2023, 208 S., 24 Euro
Aus d. Bosn. v. Rebekka Zeinzinger
Bestenliste Buch März 2023 TOP 3
3. Virginie Despentes: Liebes Arschloch
Spätestens seit der „Vernon Subutex“-Trilogie ist Virginie Despentes die wichtigste feministische Bestsellerautorin Frankreichs, doch schon in ihrem autobiografischen Essay „King Kong Theorie“ hat sie 2006 – etliche Jahre vor #MeToo – die eigene Vergewaltigung thematisiert.
Jetzt erscheint ein neuer Roman, in dem ihre drei Protagonist:innen ausschließlich via Mails und Postings übereinander herfallen: Die Netz-Feministin Zoé klagt den erfolgreichen Romanautoren Oscar an, er habe ihr vor zehn Jahren – damals hatte sie als seine Pressereferentin gearbeitet – auf unzumutbare Weise nachgestellt und seine Macht missbraucht. Zwischen ihnen steht die Schauspielerin Rebecca, die Oscar noch aus der Kindheit kennt. Auch sie geht den Schriftsteller hart an, relativiert den Missbrauch nicht – und doch bringt sie zugleich eine Art von Verständnis für den alkoholkranken Macho auf.
Es sind diese versöhnlichen Zwischentöne, die „Liebes Arschloch“ zu einem Spektakel machen: Es ist gesetzt, wer hier der Täter und also das Arschloch ist – zugleich kommt die Diskussion auf der gesellschaftspolitischen Ebene aber einen Schritt voran.
Kiepenheuer & Witsch, 2023, 336 S., 24 Euro
Aus d. Franz. v. Ina Kronenberger u. Tatjana Michaelis
2. Clemens J. Setz: Monde vor der Landung
Clemens J. Setz liebt die Freaks, und in dem Wormser Hohlwelt-Verfechter Peter Bender hat er einen Spinner gefunden, der dem 40-jährigen Georg-Büchner-Preisträger für einen biografischen Roman mit mehr als 500 Seiten taugt. Nachdem jener Bender schwer verwundet aus dem Ersten Weltkrieg heimkehrt, gründet er 1919 mit der Wormser Menschheitsgemeinde eine obskure Religionsgemeinschaft: Das kopernikanische Weltbild hält er schlicht für Propaganda, seiner Meinung nach lebt die Menschheit nicht auf, sondern in einer Kugel, und je mehr Benders hanebüchene Thesen widerlegt und angefeindet werden, desto durchgeknalltere Beweisführungen hält er dagegen.
Wegen Gotteslästerei landet er zunächst im Gefängnis, später in der Psychiatrie, er stellt den Kontakt zu der amerikanischen Koresh-Gemeinde her, die sein Weltbild teilt – doch bevor er in die USA emigrieren kann, landet Bender im Konzentrationslager und wird von den Nazis getötet.
Setz weiß, die Verschwörungstheorie auch über eine so lange Strecke extrem unterhaltsam zu halten. Er baut Fotos, Auszüge aus Briefen und sogar psychiatrische Gutachten ein und gibt Benders Gedankenwelt mit ganz feiner Ironie wieder. Doch zur literarischen Großtat wird „Monde vor der Landung“ vor allem dadurch, dass er seinen Antihelden nicht vorführt: Ohne die Gefahren von Benders Thesen herunterzuspielen, die sich nicht zuletzt auch in einem äußerst fragwürdigen Frauenbild zeigen, blickt er empathisch auf den Menschen und die gesellschaftlichen Umstände.
Suhrkamp, 2023, 528 S., 26 Euro
1. Douglas Stuart: Young Mungo
„Mungo schaffte es nicht, den Abstand zwischen ihnen zu überbrücken. Das Äußerste, was er tun konnte, war, seine Hand neben James’ Hand zu legen, sodass sich ihre kleinen Finger beinahe berührten. Sie lagen so dicht beieinander, dass es so gut wie eine Berührung war. Die Wärme von James’ Hand überwand den Abstand und flutete Mungos ganzen Körper.“
Vieles ist aus Douglas Stuarts im Jahr 2020 mit dem Booker Preis prämierten Roman „Shuggie Bain“ bereits vertraut: Auch „Young Mungo“ spielt in einem Glasgower Arbeiterviertel, und mit Mo-Maw kommt erneut eine Alkoholikermutter vor – die diesmal allerdings vor allem abwesend ist. Doch Stuarts überbietet sein so gefeiertes Debüt sogar noch, wenn er von Mo-Maws jüngsten Sohn erzählt, dem 15-jährigen Mungo, einen soft boy, für den in dieser homophoben Welt eigentlich keinen Platz gibt.
Es ist diese poetische Zärtlichkeit, mit der Stuart von Mungos Liebe zu James erzählt, der ausgerechnet auch noch Katholik ist. Und Stuart hat selbst für Mungos großen Bruder Hamish noch Liebe übrig, einen gewalttätigen Bandenführer, der Jagd auf Katholiken macht.
Hanser Berlin, 2023, 416 S., 26 Euro
Aus d. Engl. v. Sophie Zeitz
Riskieren Sie auch einen Blick auf unsere Liste mit den den besten Büchern im Februar 2023