Die besten Krimis 2021: Empfehlungen für den September
Die Wochen vor der Wahl sind die spannendsten: Die besten neuen Krimis im September 2021 mit Judith Merchant, James Sallis und Ken Bruen.
Während die Wahlprogramme nur sehr wenige Überraschungen anbieten, überzeugen die Krimi-Neuerscheinungen im September umso mehr mit spektakulären Plots, unvorhersehbaren Wendungen und kompromissloser Spannung. Doch wer soll Judith Merchant stoppen? Ihr raffinierter Psychothriller „Schweig!“ dreht die Spannungsspirale immer weiter hoch und ist bitterböse – sogar bis über den allerletzten Satz hinaus.
Vielleicht hat ja James Sallis eine Chance auf unserer Liste der besten Krimis im September 2021 an ihr vorbeizuziehen , denn der Autor von etwa „Driver 2“ und „Willnot“ ist ein Meister der unkonventionellen Kriminalliteratur. In seinem neuesten Noir „Sarah Jane“ spielt er mit den Erwartungen an eine klassische Krimihandlung und erhebt den Plot mit literarische Finesse zu einer Reflexion über das Wesen der Wahrnehmung. Auch Castle Freeman wird mit „Herren der Lage“ ganz sicher eine entscheidende Rolle auf unserer Liste der besten Krimis im September 2021 spielen.
Auch in seinem vierten Vermont-Roman blickt er ironisch-liebevoll auf die scheinbar einfach gestrickten Bewohner der nordamerikanischen Provinz. Zudem rebelliert Jörg Juretzka wieder gegen Genrestandards und legt mit „Nomade“ den mittlerweile 14. Roman mit seinem kultigen Antihelden Kristof Kryszinski vor. „Saubermann“ von Ken Bruen gehört definitiv in jedes gut sortierte Guilty-Pleasure-Regal – und damit ebenfalls auf unsere Liste der besten Krimis im September 2021.
Oder gelingt am Ende gar Martin Krüger ein Überraschungscoup? Der Bestsellerautor startet mit dem Pageturner „Waldeskälte“ eine Thriller-Serie um Interpol-Leutnant Valeria Ravelli.
Die besten Krimis im September 2021
6. Jörg Juretzka: Nomade
Warum sich am Rhein-Herne-Kanal den Arsch ablangweilen, wenn man sein Leben zu einem Offroadmovie machen kann? Ex-Privatdetektiv Kristof Kryszinski hat genug von Bottrop, schnappt sich Hündin Bella und schickt sich selbst in die Wüste: In seinem robusten 59er L312-Allradtruck fährt er lässig durch die Sandgebirge und Dünentäler Südalgeriens.
Zum Zeitvertreib sucht er nach vermissten Touristen und Abenteurern, die sich – anders als er – aufgrund ihrer Naivität und Selbstüberschätzung oftmals in der Einöde verlieren. Oft haben sie das Pech, von leeren Akkus, defekten Spritpumpen, Banditen oder allem gleichzeitig erwischt zu werden. Kryszinski stößt auf das, was gelbäugige Tiere und die sengende Sonne der Sahara von ihnen übrig lassen.
Wenn er doch mal unerwartet auf Lebende trifft, bedeutet es meistens Ärger. So muss er nicht ganz freiwillig eine improvisierte Not-OP an einem afghanischen Gangsterboss vornehmen und die 15-jährige somalische Migrantin Jamilah vor Schleusern und ihrem eigenen Übermut retten. Da hofft selbst Kryszinski, Bottrop irgendwann wiederzusehen …
Im mittlerweile 14. Roman mit seinem kultigen Antihelden schert sich Krimipreisträger Jörg Juretzka schon längst nicht mehr um Genrestandards und lässt Kryszinski mit seinem staubtrockenen Humor selbst bei höllischer Hitze verdammt cool aussehen.
Rotbuch, 2021, 224 S., 19,90 Euro
5. Martin Krüger: Waldeskälte
Die 35-Jährige Valeria Ravelli hat Karriere gemacht: Als Leutnant bei Interpol kämpft sie mit der Sondereinheit 11 gegen das organisierte Verbrechen. Vor allem hat sie es auf Salvatore Guscino abgesehen, den Kopf des ‚Ndrangheta-Clans, dem nicht nur Menschenhandel, Prostitution, Drogendelikte und Giftmüllentsorgung vorgeworfen werden, sondern der auch für den Tod ihres neun Jahre älteren Bruders verantwortlich ist.
Doch als Ravelli in Zürich weilt, um bei einer Konferenz mit internationalen Kolleg:innen über ein gemeinsames Vorgehen zu beraten, tut sich plötzlich ein ganz anderer Fall auf, der die Ermittlerin mit ihrer Vergangenheit konfrontiert: Nachdem sie 21 Jahre nichts mehr von ihrem alten Jugendfreund Elias Mattei gehört hatte, meldet er sich urplötzlich mit einem nächtlichen Anruf, um ihr von dem Verschwinden seiner 14-jährigen Nichte Nora zu erzählen.
Mattei fleht Ravelli an, in ihr altes Heimatdorf in den Schweizer Alpen zurückzukehren und den Ermittlern bei der Suche nach dem verschwundenen Mädchen zu helfen. Denn es gibt viele Parallelen zu einem Verbrechen, das das Dorf vor 21 Jahren erschüttert hat: Damals waren drei vierzehnjährige Mädchen in den Wäldern von Eigerstal verschwunden, und zwei von ihnen wurde bestialisch ermordet.
Wie damals hat man nun bei dem Verschwinden von Nora nicht nur auf einer Lichtung einen toten Hirsch gefunden, sondern auch dieses unheimliche, mit Blut gemalten Zeichen auf einem Felsen: einen gehörnten Steinbock. Nachdem Ravelli alles getan hat, um die Vergangenheit zu vergessen, kehrt sie an den Ort zurück, an dem ihre beiden besten Freundinnen gestorben sind und an dem sie als 14-Jährige drei Tage lang durch den dunklen Wald geirrt und dem Mörder nur knapp entkommen ist.
Um Nora zu finden, muss Ravelli sich endlich erinnern, was damals vor 21 Jahren geschehen ist … „Waldeskälte“ zeichnet all das aus, was die Fans an Martin Krüger lieben: Auf blutrünstige Detais kann er verzichten, denn bei ihm funktioniert der Horror über das Ungewisse und die Vorstellungswelten der Lesenden. Krüger spickt den ungemein spannenden Plot mit unvorhersehbaren Wendungen, und mit atmosphärisch dichten Beschreibungen lockt er die Leser:innen immer tiefer in die bedrohlichen Alpenwälder. Vor allem aber zeichnet er detaillierte Psychogramme seiner Hauptfiguren – und so folgt hoffentlich schon ganz bald ein zweiter Fall für Valeria Ravelli.
HarperCollins, 2021, 448 S., 15 Euro
4. Castle Freeman: Herren der Lage
Zimtdoughnuts mampfen, die Dinge laufen lassen und alles im Auge behalten: Sheriff Lucian Wing bringt ein Möchtegern-Geiselnehmer genauso wenig aus der Ruhe wie ein wild gewordener Monsterkeiler. Hier im idyllischen Städtchen Cardiff im dünnbesiedelten US-Bundesstaat Vermont lassen sich die wenigen Verbrechen eh immer auf Jim Beam oder Dämlichkeit zurückführen.
Alles easy – auch wenn Wings Ehefrau Clemmie mal wieder Kaffeebecher tieffliegen lässt. Doch als ein Städter mit einer protzigen Limousine vorfährt, flackert selbst bei Sheriff Wing kurz mal das Alarmlämpchen. Ein dubioser Anwalt aus New York macht auf wichtig und gibt ihm selbstgefällig die Order, nach der siebzehnjährigen Stieftochter seines Auftraggebers zu suchen.
Die soll sich hier im Wald mit ihrem Schulfreund Duncan verstecken. Macht sie auch, doch Sheriff Wing und Deputy Treat fürchten, dass den beiden Gefahr droht. Als auch noch zwei Gangsterfressen in Cardiff herumrandalieren, droht die Geschichte zu eskalieren.
Da muss selbst der nerdige Schrottplatzhändler sein WW2-Maschinengewehr hervorkramen und ein tierischer Radaubruder Dienstbeistand leisten, um die Lage wieder in den Griff zu kriegen … Castle Freeman blickt auch in seinem vierten Vermont-Roman ironisch-liebevoll auf die scheinbar einfach gestrickten Bewohner der nordamerikanischen Provinz.
Hinter deren wortkarger, lakonischer Art verbirgt sich mehr gegenseitige Zuneigung und Cleverness, als man zunächst glaubt. Doch den städtischen Großmäulern zeigen sie mit gebotener Härte, wo der Hammer hängt.
Hanser, 2021, 182 S., 20 Euro
Aus d. Engl. v. Dirk van Gunsteren
3. Ken Bruen: Saubermann
Eins in die Fresse, ein Tritt vor’s Knie, zweimal in die Nieren geboxt: Chief Inspektor Roberts und Sergeant Brant gleichen ermittlerische Inkompetenz mit Brutalität aus, gefallen sich in breitbeinigen Eierkratzposen und mobben genüßlich die schwarze WPC (Women Police Constable) Falls.
Ken Bruens siebenteilige Polizeiserie rotzt als anachronistischer Brit-Pulp all dem vor die Füße, was Political Correctness, #MeToo und LGBTQ mittlerweile so mühsam erreicht haben.
Doch schon im ersten Band – 1998 erschienen, jetzt in deutscher Übersetzung – deutet sich an, dass schmerbäuchige Selbstgefälligkeit nicht zukunftsweisend ist: Ein interner Ermittler sitzt Roberts und Brant im Stiernacken, Roberts’ Frau findet junge Fuckboys besser als den alten Sack, und auch Falls wird sich gegen ihre versoffenen Vorgesetzten behaupten.
Die wollen gerade mit einer „sauberen“ Verhaftung ihren Ruf retten: Gelegenheit dazu bieten ein Irrer, der das englische Cricketteam dezimiert, und eine Bande namens „E-Crew“, die Drogendealer hängt. Wer die fiesesten Tricks in Südost-London draufhat, zeigt sich als Brants heißgeliebte Krimisammlung geschreddert und ein Hund abgefackelt wird …
Ken Bruen verneigt sich vor allem, was in der Popkultur cool ist, und on top gibt’s ein Nachwort von Alf Mayer, der einiges über Polizeiromane weiß. Gehört also definitiv in jedes gut sortierte Guilty-Pleasure-Regal – und auf unsere Liste der besten Krimis im September 2021.
Polar Verlag, 2021, 224 S., 14 Euro
Aus d. Engl. v. Karen Witthuhn
2. James Sallis: Sarah Jane
Das Leben ist kein Pizzaservice! Zumindest kein guter. Nicht immer bekommt man, was man gerne haben will, und manchmal fehlt die extra Peperoni. Bei den Lebensgeschichten, die uns Noir-Autor James Sallis liefert, können wir aber sicher sein: Es fehlen zwar immer ein paar Stücke, aber die Konsistenz ist einzigartig und garantiert kein Fastfood.
Obwohl diesmal gleich mehrere Jahrzehnte im Schnelldurchlauf aufgetischt werden: Ich-Erzählerin Sarah Jane berichtet davon, wie sie im amerikanischen Süden in ärmlichen Verhältnissen aufwächst, sich mit 17 in der Hausbesetzerszene ausprobiert und durch einen gerichtlich verordneten Militärdienst mitten in den Horror des Golfkriegs katapultiert wird. Später jobbt sie als Küchenhilfe, macht ihren Collegeabschluss, hat unglücklich verlaufene Beziehungen, wird schwanger, und ihr Baby stirbt kurz nach der Geburt.
All das erzählt James Sallis nicht chronologisch. Sarahs vermeintliche Tagebucherzählung springt in den Jahren hin und her, und schnell wird klar: Es gibt bewusst gesetzte Leerstellen und auch Todesfälle, die nur angedeutet werden. Einiges weist auf Verbrechen hin, die Sarah begangen haben könnte. Sie selbst beteuert, nicht alles, was behauptet wird, auch getan zu haben.
Und jetzt – nach 66 elegant servierten Seiten, auf denen Sallis uns schon ordentlich Appetit auf die nächsten zwei Drittel gemacht hat – beginnt die eigentliche Geschichte als Hauptmahlzeit. Sarah landet mehr aus Zufall in der Kleinstadt Farr im Südwesten. Dort bewirbt sie sich kurzentschlossen als Cop, und der dortige Sheriff Cal Phillips stellt sie ohne viele Fragen ein.
Sarah ist wie geschaffen für ihren neuen Job: Sie ist sensibel für kriminelle Verhaltensmuster und spürt, wenn sich Verbrecher durch ihre Körpersprache verdächtig machen. Nach einem Jahr verschwindet Cal plötzlich. Sarah wird zum Sheriff ernannt und soll den Vermisstenfall aufklären. Doch ein Special-Agent vom FBI taucht auf und kennt anscheinend belastende Details aus Sarahs Vergangenheit …
James Sallis („Driver 2“, „Willnot“) spielt mit den Erwartungen an eine klassische Krimihandlung, und erhebt den Plot mit literarischer Finesse zu einer Reflexion über das Wesen der Wahrnehmung. Mit einem liebevollen Blick auf scheinbar unbedeutende Alltagsmomente verdichtet er elegant zu einem ungewöhnlich warmherzigen Noir.
Dem mehrfachen Krimipreisträger geht es darum, wie Lebensereignisse – und somit auch Verbrechen – durch die Umstände der Wahrnehmung beeinflusst werden. Triviale Alltagseindrücke, Erinnerungen, Träume – und ja, auch Drogen – verzerren unsere jeweilige Perspektive, überlagern die faktischen Geschehnisse und erschaffen ein komplexes, aber eben nur subjektiv wahres Bild.
Aus der Tatsache, dass diese Eindrücken und Einschätzungen mit denen anderer Menschen selten deckungsgleich sind, bezieht gerade das Krimigenre seine Faszination. Unser Sein wird also durch ein Sammelsurium von zufälligen Ereignissen bestimmt, die nicht immer so recht zueinander passen. Somit ist das Leben vielleicht doch so etwas wie eine Pizza Hawaii.
Liebeskind, 2021, 224 S., 20 Euro
Aus d. Engl. v. Kathrin Bielefeld u. Jürgen Bürger
1. Judith Merchant: Schweig!
Thrillerautorin Judith Merchant wählt eine klassische Versuchsanordnung: Weihnachten. Kammerspielartig auf nur wenige Personen und Handlungsorte begrenzt. Zwei Schwestern haben sich entzweit. Esther, die ältere, lebt den scheinbar erfüllten Mittelstandstraum mit Mann, Kindern, Katze in ihrer Stadtwohnung.
Sue, die jüngere, lebt nach ihrer Scheidung kinderlos in einer übergroßen Villa im Wald und pfeift auf Lametta, Gans und Tiramisu. Doch Esther will wenigstens kurz vor Heiligabend ein kurzes Geschwistertreffen und fährt 100 Kilometer zu ihrer kleinen Schwester, die sie immer nur „Schnecke“ nennt.
Die öffnet mit einem Messer in der Hand. Zunächst kommt es jedoch nur zu verbalen Sticheleien, die aus belanglosem Smalltalk herausblitzen. In Wahrheit sind aber schon wieder die alten manipulativen Machtspielchen zwischen den Schwestern entbrannt, die im Laufe der Nacht selbst ein Mord nicht stoppen kann …
Merchant setzt auf einen raffinierten Wechsel der Erzählperspektiven und zeitliche Rückblenden, um den Kontrollwahn und den Neid zu zeigen, der sich schon seit Kindheitstagen hinter den kleinen Grausamkeiten der beiden Schwestern verbirgt.
Dabei zieht die Autorin ihren unzuverlässigen Erzählerinnen mehr als nur einmal trickreich und unerwartet den Boden unter den Füßen weg. Manchmal verbirgt sie Horror in nur einem einzigen Wort, das zunächst unspektakulär wirkt, aber im Kontext eine giftige Bedeutung bekommt.
Wir ahnen schon: Zum Ende werden hier natürlich nicht friedlich Geschenke ausgepackt und Kerzen ausgepustet. Wer ist hier Opfer, wer Täter? Judith Merchants raffinierter Psychothriller dreht die Spannungsspirale immer weiter hoch und ist bitterböse – sogar bis über den allerletzten Satz hinaus.
Man sollte schon misstrauisch werden, wenn man dieses Buch von seiner Schwester zu Weihnachten geschenkt bekommt. Besser also jetzt schon vorab lesen und für das nächste Treffen mit seinen Liebsten gewappnet sein … Auf unserer Liste der besten Krimis im September 2021 steht Judith Merchant ganz oben.
Kiepenheuer & Witsch, 2021, 352 S., 15 Euro