„Die Geschichte des Klangs“ von Ben Shattuck

Er braucht nur wenige Seiten, um die bewegendste Liebesgeschichte des Buchjahres zu erzählen – doch Ben Shattuck hat mit „Die Geschichte des Klangs“ noch viel mehr im Sinn.
Im April 1984 bilanziert Lionel seine Liebesbiografie: „Ich hatte nicht die Schuldgefühle, die manche Männer in meiner Generation gehabt hätten. Ich liebte David und dachte nicht weit darüber hinaus. Mein Irrtum war die Annahme, David sei der erste von vielen. Eine erste Kostprobe der Liebe. Ich war gespannt auf meine Zukunft. Wie hätte ich wissen können, dass der ganze Rest – Alex, Laura, William, Vincent, Clarissa, Sarah und zuletzt George – nach dieser ersten kurzen Flutwelle eigentlich nur Rinnsale waren?“ Es ist ein Paket, das den 84-Jährigen aus der Bahn wirft: Beim Ausräumen ihres neugekauften Hauses ist eine Frau auf einen Karton gestoßen, auf dem Lionels Name steht – und die darin befindlichen 25 Wachswalzen für Phonographen setzen Lionels Erinnerungen an David in Gang.
Es ist das Jahr 1916, als sich die beiden Musikstudenten in einer verrauchten Bar im ländlichen Maine kennenlernen. Die beiden freunden sich an, beginnen eine Affäre, doch dann kommt ihnen der Krieg dazwischen, und David wird eingezogen. Lange Zeit hört Lionel nichts von David, bis ihn im Sommer 1919 ein Brief seines Freundes erreicht. Darin das Angebot, gemeinsam mit ihm durch die Wälder New Englands zu ziehen, um alte Volkslieder zu sammeln und sie auf Wachszylinder aufzunehmen. „Mein Großvater hat mal gesagt, dass Glück keine Geschichte ist. Darum gibt es über diese ersten Wochen nicht viel zu sagen“, sagt Lionel in der Rückschau. Es sind die glücklichsten zwei Monate seines Lebens, doch nachdem sie am Ende dieses Sommers auseinandergehen, wird er David nicht wiedersehen. Lionel, der Töne als Farben und als Geschmack wahrnehmen kann, macht als Sänger Karriere, er schreibt drei erfolgreiche Bücher über amerikanische Folkmusik, dennoch ist seine Bilanz ernüchternd: „Diese Walze erinnerte mich an das, was ich verpasst hatte: ein Leben, von dem ich nichts wusste, von dem David aber ein Teil war. Das richtige Leben. Wie lächerlich kurz es gewesen war.“
Die Verfilmung von „Die Geschichte des Klangs“ hat in Cannes seine Premiere gefeiert
Gerade mal 40 Seiten benötigt der US-Amerikaner Ben Shattuck, um die wohl bewegendste Liebesgeschichte des Buchjahres zu erzählen. Sanft und einfühlsam, aber auch ganz klar lässt er Lionel von seiner Zeit mit David berichten und findet so zu einer Sprache, dank der die kurze Erzählung lange nachhallt. Kein Wunder, dass „Die Geschichte des Klangs“ bereits für die Leinwand adaptiert wurde: Oliver Hermanns Film mit Paul Mescal und Josh O’Connor in den Hauptrollen hat in Cannes seine Premiere gefeiert und soll noch dieses Jahr in die Kinos kommen. Doch dass der 46-jährige Shattuck völlig zu Recht als literarische Entdeckung gefeiert wird, liegt auch an der zweiten Hälfte des Buches. Der vergangenes Jahr im Original erschienene Erzählband „The History of Sound“ umfasst zwölf Texte, und neben der titelgebenden Erzählung gibt es mit „Origin Stories“ einen Text, in dem Lionel und David vorkommen. In der deutschen Ausgabe folgt er direkt auf die Titelgeschichte, die anderen Erzählungen fehlen.
Da ist diese eine Frage, die nach der Lektüre von „Die Geschichte des Klangs“ lange nachhallt
In diesem zweiten Teil geht es um Annie, die in dem von ihr gekauften Haus auf den Karton mit den Aufnahmen von Lionel und David stößt. Anders als Lionel hat sie ihre große Liebe festgehalten und die eigene wissenschaftliche Karriere für ein Leben an der Seite eines attraktiven Biologen geopfert. Während jener Henry als Dozent arbeitet, fristet sie ihr Dasein in einem Teilzeitjob, der ihr nichts bedeutet, und träumt von einem aufregenderem Leben. Annie schickt Lionel die Aufnahmen, sie besucht Davids Frau, um ihr weitere, persönliche Dinge aus dem Haus zu bringen, und auf der Rückfahrt zieht auch Annie eine Bilanz: „Sie stand im Wald, sah die Scheinwerfer ihres im Leerlauf summenden Wagens die vollkommen leere Straße beleuchten und dachte zum ersten Mal darüber nach, dass das, was sie eigentlich immer für den Anfang ihres eigentlichen Lebens gehalten hatte, möglicherweise das Ende gewesen war.“ Ist eine kurze, intensive Liebe, auf die man mit Wehmut zurückblicken kann, mehr wert als die große Erfüllung? Es ist vor allem diese Frage, die nach der Lektüre von „Die Geschichte des Klangs“ lange nachhallt.
Mit „Die Geschichte des Klangs“ hat es Ben Shattuck auf unsere Liste der besten Bücher im August 2025 geschafft.