„Die Nachbarin“ von Elizabeth Jenkins

Mit Schirm, Scham und Melone: Das Sittengemälde der britischen Nachkriegsgesellschaft, „Die Nachbarin“ von Elizabeth Jenkins, liegt jetzt erstmals in deutscher Übersetzung vor.
Ein Kind, ein Mann, ein Garten (und ein Verehrer, mit dem sie aber niemals durchbrennen würde) – was kann frau sich im spießigen London der 1950er Jahre mehr wüschen? In „Die Nachbarin“ von Elizabeth Jenkins beantwortet Protagonistin Imogen diese Frage sehr lange mit: Nichts, wieso?
Und das, obwohl ihre Ehe mit dem zwölf Jahre älteren Kronanwalt Evelyn Gresham nicht konventioneller sein könnte. Er ist der bodenständige Pfennigfuchser – pragmatisch, spröde, diszipliniert –, sie die Feinfühlige, Verträumte, Bemühte; einen „middleground“ gibt es nicht. Diese Verteilung wird schon auf Seite 1 klar, die restlichen 334 Seiten über scheinen nur dazu da zu sein, die Charakterdifferenz wie mit dem Markerstift immer dicker, immer greller zu umkreisen. Kein Wunder also, dass Imogen Blanche, die titelgebende Nachbarin, mit einigem Argwohn betrachtet: Sie ist Mitte fünfzig, trägt gern groben Tweed, kennt sich mit Jagen und Fischen aus – ein regelrechtes Mannsweib, um im Jargon der Epoche zu bleiben – den Imogen natürlich nie gebrauchen würde. Ihr Mann hingegen findet Gefallen an der robusten Alleinstehenden, und Imogen muss sich fragen, ob sie den Menschen eigentlich kennt, mit dem sie verheiratet ist …
Ein menschgewordenes „Oh Dear!“
Als Sittengemälde funktioniert „Die Nachbarin“ ungemein gut, schließlich handelt es sich hier um die deutsche Erstübersetzung eines Romans von 1954. Er wurde also zu genau der Zeit geschrieben, in der er spielt. Jenkins‘ Blick durch Imogens Augen ist durchweg plausibel, egal, ob es um die unzähligen Arten geht, wie Licht durch etwas auf etwas fallen und sich dabei wie färben kann, oder um die alles durchwirkende Unterdrückung, in die sie sich gefügt hat. Sie ist eine Duckmäuserin, ein menschgewordenes „Oh Dear!“, das über sich selbst sagt, der hauptsächliche Makel an ihrer Erscheinung liege in ihrem Wesen – Brüste, Lippen und Taille seien zum Glück ansehnlich. Sie denkt zu viel nach, und das ziemt sich nicht.
Trotzdem bleibt auch für das feministisch vorgebildete Publikum unklar, ob Jenkins diese Tapisserie von Vorort-Attitüden als bloße Abbildung, Satire oder gar Idealzustand gemeint hat. So weit weg, so rückständig erscheint die Zeit der Mehrfachanschlüsse, über die sich Telefonate belauschen ließen, der aufmüpfigen Haushälterinnen (Gott behüte eine Sozialistin!) oder der Männer, die man danach aussucht, wie gut sie die „Lenkung über das eigene Leben“ übernehmen können. Ein Roman also, der gut zur Vergewisserung taugt, dass früher eben nicht alles besser war.