„Disclaimer“ bei Apple TV+ ist ein Schlag in die Magengrube. Und das ist positiv gemeint!
Eine TV-Journalistin findet sich als Hauptfigur eines kompromittierenden Romans wieder: Die Miniserie „Disclaimer“ von Alfonso Cuarón und mit Cate Blanchett erzählt auf betörende Weise eine Tragödie.
Das Leben der preisgekrönten Fernsehjournalistin Catherine Ravenscroft wird zum Albtraum, als ein pensionierter Literaturprofessor ein Buch veröffentlicht, in dem Catherine offenbar die Hauptfigur ist, und das von ihrem düsteren Geheimnis handelt. Die Psychodrama-Serie nach dem gleichnamigen Bestseller (deutscher Titel: „Deadline“) von Renée Knight läuft jetzt bei Apple TV+. Die zweifache Oscar-Preisträgerin Cate Blanchett („Tar“, „Mrs. America“) spielt die Hauptrolle, Kevin Kline („Ein Fisch namens Wanda“) und „Borat“ Sacha Baron Cohen in einer seltenen ernsten Rolle sind in weiteren Hauprollen zu sehen. Die Idee, das Drehbuch und die Regie kommen vom mehrfachen Oscar-Preisträger Alfonso Cuarón („Gravity“, „Roma“).
„Disclaimer“ bei Apple TV+: Wovon handelt die Serie?
Ein Disclaimer ist ein Haftungsauschluss, wir finden ihn auf Websites, in E-Mails oder zu Beginn oder am Ende von Filmen und Büchern in dieser Form: „Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen ist rein zufällig“. Zu Beginn des Buches, das eines Tages in der Post der erfolgreichen Dokumentarfilmerin Catherine Ravenscroft (Cate Blanchett) landet, steht diese Floskel auch, mit einem feinen, aber gewichtigen Unterschied: „Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen ist nicht zufällig“.
Danach sind wir am Haken, Catherine natürlich erst recht, als sie herausfindet, dass die Hauptfigur dieses Werkes mit dem Titel „The perfect Stranger“ ihr sehr bekannt, zu bekannt vorkommt: Sie ist es selber. Und im Zentrum dieses Enthüllungsbuches im Kleid eines Unterhaltungsromans steht ein Vorfall vor 20 Jahren, als Catherine mit dem fünfjährigen Sohn Nicholas alleine an der italienischen Mittelmeerküste Urlaub machte, weil ihr Mann Robert aus beruflichen Gründen abreisen musste.
Anonymer Absender des Buches und zweiter Handlungstrang ist der pensionierte Literaturprofessor Stephen Brigstocke (Kevin Kline). Nach dem Krebstod seiner Frau Nancy (Lesley Manville, „Mum“), die nach dem frühen Unfalltod des gemeinsamen Sohnes Jonathan jegliche Lebenslust verlor, hat Stephen das Manuskript in Nancys Schreibtischschublade gefunden. Nancy hatte es geschrieben, während sie sich von ihm und der Welt zurückgezogen hatte.
Stephen beginnt damit eine perfiden Rache an Catherine und ihrer Familie. Aber warum? Catherines Mann Robert (Sacha Baron Cohen, „Borat“) bekommt ein Exemplar, zusammen mit kompromittierenden Fotos, der labile, drogensüchtige, von Catherine entfremdete Sohn Nicholas (Kodi Smit-McPhee, „The Power of the Dog“) ebenfalls, so wie jeder und jede bei Catherines Arbeit, in den Buchhandlungen steht es auch prominent. Catherines wortwörtlich preisgekrönte (sie erhielt gerade einen renommierten Medienpreis) Existenz implodiert vor ihren Augen.
Und wir sehen als dritte parallel erzählte Geschichte einem verliebten jungen Paar beim Interrail-Urlaub in Italien zu, offenbar in der Vergangenheit, und offenbar mit Stephens und Nancys Sohn Jonathan (Louis Partridge, „Pistol“). Dieser trifft nach der hektischen Abreise seiner Freundin auf eine Mutter (Leila George) mit einem kleinem Sohn.
Unkonventionelle Kamera- und Regiearbeit erzeugen einen mächtigen Sog
Alfonso Cuarón, der zuletzt 2018 mit dem autobiografischen Dama „Roma“ Aufsehen erregte, hat für die Verfilmung des Buches von Renée Knight einen visuell einzigartigen Ansatz gewählt. Er verpflichtete den dreifachen Oscar-Preisträger Emmanuel Lubezki („Gravity“, „Birdman“, „The Revenant“) sowie den sechsfach für den Oscar nominieren Bruno Delbonnel („Die fabelhafte Welt der Amélie“, mehrere Filme mit den Coen-Brüdern und Tim Burton) für die Kameraarbeit. Aber: Lubezki hat nur mit Cate Blanchett gedreht und Delbonnel dafür ausschließlich die Szenen mit Kevin Kline aufgenommen.
So entstehen visuell getrennte Welten zweier Individuen, die in komplett unterschiedlichen Universen leben. Hier das in tiefenscharfen Bildern und mit klaren Linien gefilmte Haus der Ravencrofts und das moderne Loft samt diverser Belegschaft von Catherines Arbeitgeber, dort Stephens in grau, braun und grün getauchtes Heim voller dunkler Ecken und leicht unscharfer Räume. Dazu kommt die sonnendurchflutete, fast märchenhafte Urlaubsidylle in Italien, bei der jede kleine Episode mit einem sich langsam schließenden Kreis endet – ganz so, wie früher Charlie Chaplin als Tramp am Ende eines Films davonwackelte.
Cuarón fragmentarisiert seinen Stoff, indem er ihn auf insgesamt drei Zeitebenen spielen lässt, die aber klar und souverän voneinander getrennt sind. Und: Catherine und Robert werden von einer Erzählstimme begleitet, die erklärt, was sie fühlen und denken oder was früher in ihrem Leben passiert ist – und das auch noch hin und her wechselnd zwischen erster, zweiter und dritter Person Singular! So ungewöhnlich wie spannend ist diese Off-Stimme, die in Filmen oft verwendet wird, um komplexere Handlungsstränge auslassen zu können. Cuarón ist aber ein viel zu versierter Filmemacher, als dass er dieses Element aus Faulheit benutzt. Ihm geht es darum, die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion zu verwässern. Wir rätseln derweil, ob hier die allwissende Erzählerin der Serie am Werk ist, ob es Teile aus Nancys Buch sind oder ob es sich einfach um Zitate aus der Buchvorlage von „Disclaimer“ handelt .
Durch alle diesen ungewöhnlichen und innovativen visuellen und narrativen Ideen entwickelt „Disclaimer“ nach der ersten, eher irritierenden Folge einen mächtigen Sog, dem wir uns nicht entziehen können.
Aber wovon handelt „Disclaimer“ eigentlich?
Es geht um Trauer, Wut, Verzweiflung, Sünde und Sühne und die aus all dem hervorgehenden, teils drastischen Handlungen. Wer ist gut, wer ist böse? Wer hat recht, wer nicht? Was ist objektiv, was subjektiv?
Pointiert arbeitet Cuarón dabei auch die realen Filterblasen heraus, in der sich die finanziellen und intellektuellen Eliten heute begeben: Teures, durchdesigntes Stadthaus, hipper Job in hippen Büros, Luxusrestaurants und edler Rotwein hier, konservative Verachtung für die Gegenwart, immerzu Musik von Bach und Edelfeder-Zitate auf den Lippen, staubig-muffige Häuser, in denen die Zeit stehengeblieben ist, Schuldzuweisungen für eigenes Hintendransein stets an die Jungen.
Beiden ist gemein, dass sie aus ihrer isolierten Position heraus die einzige Wahrheit kennen zu meinen, denn andere Lebensrealitäten kennen sie nicht. Sie leiden unter selbstgewählter Segregation, befeuert von einer Moderne, in der sich die urbanen Milieus nur noch dann begegnen, wenn der unterbezahlte Taxifahrer, Paketbote oder Arzt mit Migrationshintergrund und aus dem städtischen Randgebiet Dienstleistungen für die Privilegierten leistet.
Es geht auch um als Fiktion getarnte Verleumdungen, zwischen denen sich irgendwo Wahrheiten verbergen soll, literarische Freiheit, die zu literarischen Lügen führt; Cyberstalking und Shitstorms als Fortführung dieser Lügen mit modernen Mitteln; um Push-Benachrichtigungen, die auf Smartphones zu millionenfachen Multiplikatoren der Lüge werden.
Vor allem handelt „Disclaimer“ von Pestseuchen unserer Zeit: Frauenfeindlichkeit, gefühlte Wahrheiten, Fake News, Shitstorms, Cancel Culture. Niemand fragt Catherine, ob die Anschuldigungen wahr sind („Warum haben Sie es nicht hinterfragt“, sagte eine Figur einmal. „Warum taten Sie das nicht?“, kommt die Antwort). Alle glauben dem Beschuldiger, auch, weil er alt und schwächlich tut.
Jede Verteidigung gegen die Unterstellung wird als Beweis für die Schuld verstanden, je verzweifelter die Verteidigungsversuche, desto eindeutiger das Urteil. Der Vorwurf und die Lüge waren zuerst in der Welt und erhalten qua Chronologie den unverrückbaren Status der Wahrheit, da alle Empfänger der Lüge nur einmal kurz darüberswipen und dann zum nächsten Content übergehen.
Fakt und Fiktion vermischen sich
Das Grandiose und Schockierende an dieser Serie ist, wie sie uns durch ihre Erzählstruktur in die Falle lockt: Wir verhalten uns genauso wie der digitale Mob, wir glauben Nancys Buch, weil die Geschichte darin uns glaubhaft und als erste „Wahrheit“ aufgetischt wird. Dass es auch eine andere Wahrheit, dass es in diesem Sinne tatsächlich mal alternative Fakten geben könnte – wir ziehen es nicht in Erwägung. Aber gibt es sie denn?
Der Konjuktiv ist einer der Motoren dieser großen Streaming-Erzählung. „Disclaimer“ ist auch eine Geschichte über Eltern und die entfremdete Beziehung zu ihren Kindern, in denen sie immer nur das Beste sehen wollen, über uns moderne Menschen, die wir nicht einmal unsere Liebsten wirklich kennen und uns ihnen nie wirklich öffnen. Und über die Literatur, die Schnippsel der Realität nimmt und daraus eine Geschichte spinnt, aus Fakten allzu gerne – oder allzu leichtfertig? – Fiktion macht.
Cate Blanchett brilliert (mal wieder) – aber nicht allein
Sensationell sind durch die Bank alle Leistungen der Schauspielerinnen und Schauspieler. Von Blanchett sind wir das ja gewohnt (und sie wird einen Emmy dafür bekommen, sicher!). Aber wer hätte gedacht, dass der eher für seine komischen Rollen bekannte Kevin Kline mit 77 Jahren einen so überzeugenden, sinistren und verletzlichen Racheengel hinlegt? Gar nicht zu reden von Sacha Baron Cohen, der sich endgültig von seiner krassen Rolle als kasachischer Fernsehreporter Borat Sagdiyev emanzipiert und Roberts ganze Verunsicherung, seinen Seelenschmerz und schließlich seine Entschlossenheit nach den Enthüllungen eindringlich darstellt. Lesley Manville verkörpert Nancy mit überwältigender, explosiver Trauer, die auch etwas stark Egomanisches hat, Louis Partridge und Leila George glänzen in den Italien-Sequenzen weit über das übliche Maß von Nebenfiguren hinaus.
Ja, gibt es denn nichts zu meckern?
Doch. Der letzte Akt von „Disclaimer“ ist fast schon konventionell im Vergleich zu dem, was Cuarón davor so meisterhaft aufgebaut hat. Alle losen Fände müssen verbunden werden, und das, so logisch es diesem Ende nach, dass Cuarón gewählt hat, auch ist, geht nur auf Kosten der komplexen Narration zuvor. Doch so düster und moralisch dystopisch, wie die Serie bis dahin ausgerichtet war, würde uns ein Schluss in diesem Sinne komplett über die Klippe schicken. Ein wenig Hoffnung – das ist dann doch tröstlich.