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Keine doppelten Böden: Levin Liams Debütalbum lässt ihn sein „gesicht verlieren“

Levin Liam veröffentlicht sein Debütalbum „gesicht verlieren“
Levin Liam veröffentlicht sein Debütalbum „gesicht verlieren“ (Foto: LLL)

Er hat der deutschen Musikwelt in den letzten zwei Jahren seinen Stempel aufgedrückt. Nun hat Levin Liam sein Debütalbum veröffentlicht.

Es ist gerade einmal zwei Jahre her, da hat Levin Liam seinen englischen Alias Liam Levin abgestreift und sich fortan ausschließlich der deutschen Musik gewidmet. Mit Erfolg: Innerhalb weniger Monate hat sich der Hamburger durch sämtliche Genres hinweg einen Namen gemacht, seine ganz eigene Fahrbahn auf der Autobahn, die da deutsche Musikindustrie heißt, geschaffen und sich einen bereits jetzt schon beachtlichen Katalog aufgebaut. Kaum ein Festivalplakat der letzten Jahre kam ohne seinen Namen aus, zahlreiche große Alben der letzten Zeit enthielten ein Feature des Senkrechtstarters mit der unverwechselbaren Nuschelstimme. Ob Trettmann, OG Keemo oder Paula Hartmann: Sie alle wollten seine unkonventionelle Art, Musik zu machen, auf ihrem Album haben.

Nur eine Sache fehlte bei all dem Output, den der 25-Jährige seit 2022 unermüdlich in die Musikwelt setzt: das Debütalbum. Singles, EPs und Tapes wie seine „Levin Liam Leaks“-Reihe erschienen am laufenden Bande, doch für das erste richtige Album wollte sich der notorische Perfektionist Zeit lassen. Mit „gesicht verlieren“ fühlt er sich anscheinend wohl genug, um den ersten Langspieler auf die Welt loszulassen – und: In diesen zwei Jahren hat der ehemalige Schauspieler noch einmal jede Menge Erfahrungen in dem für ihn neuen Metier gemacht, Erfahrungen, die ihn dazu gebracht haben, anders an die Kunst heranzugehen als ein Großteil seiner Mitstreiter:innen. In einer Welt, in der viel Fassade bewahrt wird, wählt Liam den Weg des schonungslosen Freimachens und möchte sein Gesicht viel eher verlieren, als es zu bewahren.

Von innen nach außen

Deshalb beginnen die ersten Tracks des Albums auch auf einer äußerst ruhigen Note, in der der Sänger teils verhaucht gesungen, teils gerappt Stück für Stück sein Inneres nach außen kehrt. Begleitet von einem Bridget-St.-John-Sample, will Levin Liam gleich auf dem Intro „verseucht“ nicht nur sein Handy aus dem vierten Stock werfen, sondern auch mit einem Schiff einfach nur davonfahren. „Ich könnt’ schon noch, ich will nicht mehr, ich mag nicht mehr“, lamentiert er auf dem Track, der so ein wenig die Marschroute für die nächsten 15 Minuten vorgibt. Mal wird sich auf der Feier in die Ecke verzogen, um dort frei von jeglichen nervtötenden Gesprächen in Ruhe zu rauchen („rauch“), mal laufen die Katastrophen um die Wette („ein leben lang“), und sehr häufig wird nachts schlaflos wahlweise an die Decke geschaut, auf dem Bauch gelegen oder die Hotelwand inspiziert.

Gepaart mit den größtenteils selbst gebauten und nur ab und zu von Rascal oder Cato co-produzierten Instrumentals erschafft Levin Liam ein nachdenklich stimmendes Soundbild, das der melancholischen Note seiner Lyrics den Nährboden liefert, den sie braucht. Ab und an werden Streicher gesetzt, ansonsten dominieren über die erste Hälfte leicht gezupfte Gitarren und selten auch mal einige kurze Drumeinsätze. Im Vordergrund soll ganz eindeutig seine unverkennbare Stimme stehen, mit der er seine Probleme so offen wie nahbar in eine musikalische Form gießt.

Von außen nach draußen

Wer bis hierhin gelesen hat und sich denkt: „Ist der Mann ein wandelndes Wrack, das eine reine Spur der Verzweiflung durch sein Album ziehen lässt?“, dem sei gesagt: Sein „gesicht verlieren“ kann in der Welt des Levin Liam auch bedeuten, dass die Maske fallen gelassen wird und abseits der Selbstbloßstellung auch die neu dazugewonnenen Kolleg:innen ins Visier nimmt. Ab Track 6, „auf den“, nimmt das Album spürbar an Fahrt auf und gewinnt nicht nur an bpm und Drums, sondern auch an Blicken nach außen. „Ich lass’ mir von keinem mein Gesicht nehmen“ stellt er im ersten Verse klar und macht damit deutlich, dass nur einer ihn angreifen darf: Er selber. Auf der zweiten Häfte des Albums stört ihn vor allem eine Sache an dem derzeitigen status quo der deutschen Musikszene: Das stumpfe Nachmachen der Dinge, die momentan funktionieren. Folglich wird sich an Copycats abgearbeitet, die seinen Sound kopieren wollen – und ihn doch nicht zu fassen kriegen („nicht alles“).

Auch die Singleauskopplung „btw“ hat die gleiche Prämisse im Zentrum: „2024, keiner, der so macht wie wir/Frag dein neues Signing: Warum klingt dein Stuff wie der von mir?“ tönt Liam im ersten Part und gibt sich damit erneut ungreifbar. Gipfeln tut diese (zumindest musikalische) Selbstgewissheit im finalen Track des Albums, „aufwachen“. Gemeinsam mit dem einzigen Featuregast Reezy und erstmalig auf einem (sehr im Kopf bleibenden) Trapbeat, richtet Liam einige Worte in Richtung alle: Lang genug geschlafen, jetzt wird aufgewacht. Zwei Jahre sind genug gewesen, seine Zeit ist jetzt gekommen. Das wirkt nach Meilensteinen wie einem Auftritt bei Böhmermann oder Auftritten auf Mainstream-Festivals wie Lollapalooza oder Dockville zwar etwas entbehrlich, doch ganz offensichtlich hat der Mann noch viel Größeres vor. Immerhin vergleicht er sich auf demselben Track noch mit Vanessa Mai und hat die mittlerweile Arenen bespielende Nina Chuba vor nicht allzu langer Zeit auf „Bee Gees“ referenziert.

Levin Liam hat sein Gesicht verloren – was jetzt?

Was noch alles möglich ist für den Hamburger, scheint offen. Der Drang nach weit oben ist offenkundig, die Skills dafür allemal da. So schafft er es auf seinem Debüt, zwei Seiten zu zeigen und sich gleichzeitig so verletzlich wie angriffslustig zu geben. Dass das Album in beinahe gänzlicher Eigenregie entstanden ist und für ein Langspielerdebüt eines ehemaligen Schauspielers schon so unverkennbar eigen ist, spricht eindeutig für ihn und seine Ambitionen. Auch seine Fähigkeit, sich ohne doppelten Boden angreifbar zu machen und gleichzeitig trotzdem selbstsicher um seinen Stand in dieser unnachgiebigen Musikwelt zu wissen, zeigt vieles auf, was es braucht für die Karriere, die er anstrebt. Man darf gespannt sein auf die nächsten Schritte eines Künstlers, der sich schon jetzt so freimacht – nicht nur von Konventionen.

 

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