Reicht eine Milliarde gegen die Pleitewelle im Kultursektor?
„Neustart Kultur“ heißt das Förderprogramm der Bundesregierung für die Kulturbranche. Die Kritiken werden lauter, wonach eine Milliarde Euro nicht im Ansatz reichen.
Eine von insgesamt 130 Milliarden Euro für die Kultur: Sieht so die Rettung eines für unsere Gesellschaft systemrelevanten Bereichs aus? Nein, meinen nicht nur die Macher aus der Musik- und Veranstaltungsbranche sowie der Klubszene. Auch die Privattheater sind alles andere als begeistert von den jetzt beschlossenen Rettungsmaßnahmen, und auf die Kinos kommt laut Constantin-Chef Martin Moszkowicz eine große Pleitewelle zu. Es ist der privatwirtschaftliche Sektor der Kulturschaffenden, der schon unter dem Lockdown am meisten zu leiden hatte. Jetzt, wo Veranstaltungen einer geringen Größenordnung wieder erlaubt sind, werden sie durch die – medizinisch vernünftigen! – Hygienekonzepte ökonomisch so weit geknebelt, dass auch die Gelder von „Neustart Kultur“ nicht wirklich helfen. Die Folge für die Kinos: Filme wie im August der neue Eberhofer-Krimi „Kaiserschmarrndrama“ und Anfang Oktober „Contra“ werden auf unbestimmte Zeit geschoben, die Kinobetreiber aber müssen schauen, wie sie mit den ausgedünnten Besucherzahlen betriebswirtschaftlich klarkommen: 120 Millionen Euro von der Milliarde soll die Filmbranche insgesamt im Rahmen von „Neustart Kultur“ erhalten.
Lob von SPD-Linken und Ökonomen
Und dennoch ist es wuchtig auf den ersten Blick: Das Konjunkturpaket der Bundesregierung mit seinen 130 Milliarden Euro Volumen wird deshalb auch von Menschen und Organisationen unterschiedlichster politischer Ausrichtung gelobt oder zumindest verhalten gut geheißen. Vor allem die Stoßrichtung, eine nachhaltige Rezession zu stoppen mit unterschiedlichsten Methoden der Konsumförderung, findet Zustimmung. Die Öffentlichkeitsarbeit für das Konjunkturpaket ist aber auch wirklich gut. Der „Neustart Kultur“ soll mit einer Milliarde Euro auf alle Fälle gelingen, meint die Regierung, und listet konkret auf, wieviel Geld wohin fließen soll. Damit alle Kulturschaffenden auch wissen, wie sie an die Fördertöpfe kommen, hat die Initiative Kultur & Kreativwirtschaft der Bundesregierung eine umfangreiche Dokumentation aller Maßnahmen zusammengestellt und gibt Hilfestellung bis ins Detail.
Night of Light: Flammendes Mahnmal
Ins Detail gehen auch die Unternehmen der Veranstaltungsbranche, wenn sie erklären, dass sie die nächsten 100 Tage ökonomisch nicht überleben werden. Aber was ist ein Argument schon ohne Aktion, und letztere heißt Night of Light; in der Nacht vom 22. auf den 23. Juni wird die Veranstaltungsbranche in ganz Deutschland Gebäude rot anstrahlen: Eventlocations, Veranstaltungszentren, Kongresshäuser, Tagungshotels, Theater, Philharmonien, Konzerthallen, Schauspielhäuser sollen „ein leuchtendes Mahnmal und ein flammender Appell der Veranstaltungswirtschaft zur Rettung unserer Branche“ sein, „die echte Hilfe anstelle von Kredit-Programmen benötigt.“ Die Veranstaltungsbranche sieht sich zu diesem Schritt gezwungen, weil sie aufgrund ihrer Heterogenität, ihren „unterschiedlichen Gewerken und Spezialdisziplinen“ keine zentrale Lobby hat, die ihre Interessen vertritt. Die privatwirtschaftlichen Livemusikstätten erhalten insgesamt 150 Millionen Euro, die Sparte Tanz und Theater kriegt den gleichen Betrag; wer die Hygienekonzepte umsetzt, das Ticketingsystem auf den neuesten Stand bringt oder das Belüftungssystem erneuert, kann sich um ein kleines Stück Kuchen von insgesamt 250 Millionen Euro bewerben.
Der Bundesverband der Musikindustrie hat das Konjunkturpaket in einer langen Stellungnahme analysiert. Auffallend: „Neustart Kultur“ listet überhaupt nicht alle Gewerke und Zulieferer des Musikindustrie auf – die fehlenden Bereiche werden also nicht berücksichtigt. Alleine in diesem Jahr kommt die gesamte Musikindustrie auf Umsatzeinbußen in Höhe von knapp 5,5 Milliarden Euro.
Kritik von Berlins Kultursenator Klaus Lederer
Auf den Punkt bringt es Klaus Lederer, Berlins Kultursenator. Lederer vergleicht in einem Interview die Summe von einer Milliarde Euro für die Kultur mit den neun Milliarden, die die Lufthansa erhält. Der wichtigste Punkt seiner Aussage aber ist, dass der Kultursenator die Krise im Herbst als nicht beendet betrachtet: „Kultur“, so Lederer, „war zuerst und wird mit am längsten von der Pandemie betroffen sein. Im September ist sie nicht vorbei.“
Doch wann ist die Krise zu Ende? Nach drei Monaten mit täglichen Infektionszahlen im einstelligen Bereich? Nachdem 60 Prozent der Bevölkerung Antikörper gebildet haben? Oder erst, wenn ein Impfstoff da ist? Soll die Kulturbranche so lange auf der Intensivstation liegen? Wem dieses Frage zu hysterisch klingt: Gerade hat der Musikklub Knust in Hamburg sein Juli-Programm bekanntgegeben. Sie nennen es das Knust Krisenprogramm und rufen auf ihrer Homepage zu Spenden auf – direkt an sie oder aber an das Clubkombinat – den Interessenverband der Hamburger Klub-, Party- und Kulturereignisschaffenden. Die Knust-Konzerte werden allesamt nicht im Klub, sondern auf dem Knust Lattenplatz ausgetragen, der in Corona-Zeiten 150 Gästen Platz bietet, während sich in den Klub regelmäßig 500 Gäste um den besten Blick auf die Bühne rangeln; und auch sonst steht es mit dem Klub nicht zum besten. Er schreibt an die Presse:
„Um zukünftig weitere Konzerte veranstalten zu können, brauchen wir eine gewisse Planungssicherheit, die folgendermaßen aussieht: Konzerte müssen möglichst schnell nach ihrer Ankündigung bereits im Vorverkauf ausverkauft werden. Grund: Die Erlöse aus den Vorverkäufen decken gerade einmal die Kosten für Künstler*innen und das bei den Konzerten anwesende Personal. Fixkosten wie z. B. Miete, Betriebs- und Personalkosten werden dadurch bei weitem nicht abgedeckt, dazu bedarf es staatlicher Hilfe.“ Weil aber staatliche Hilfe auch beim Knust nicht den krönenden Abschluss bildet, wendet sich der Klub sofort danach direkt an die Musikbegeisterten: „Wir ihr seht, brauchen wir EURE Unterstützung mehr denn je! Also, liebe Knustler*innen und die, die es noch werden wollen: Helft uns bei der Rettung der Live-Kultur und kauft euch ein Ticket unter www.knusthamburg.de.“
Spenden und Tickets kaufen
Als kulturnews zwischen April und Ende Mai unter dem Hasthtag #KulturTrotztCorona zu Statements aufrief, meldeten sich Kulturschaffende politisch zu Wort, aber auch persönlich, mal skizzierten sie ganz konkret die Situation in ihrem Haus, mal die einer gesamten Branche. Immer wieder aber wurde die Bedeutung der Kultur für unsere Gesellschaft beschworen. Benjamina Mirnik-Voges, die Geschäftsführerin von Entertainment One, sprach über die Entwicklung der Kultur in Diskurs und Gemeinschaftserlebnis. Museumsdirektorin Gabriele Uelsberg dachte nach über „die Sehnsucht nach dem, was uns Menschen als kulturelle Geschöpfe auf dieser Welt so auszeichnet“. Sängerin Catharina Boutari fragt uns alle, was uns Musik Wert ist, und nennt, bevor wir antworten können, Streamingdienste hinsichtlich ihrer Vergütungen vorsorglich schon mal einen Schlag ins Gesicht der Künstler. Bürgerschaftliches Engagement fängt beim Musikhören an und hört noch lange nicht auf, wenn der Musikklub unseres Vertrauens darum bittet, die Konzerttickets so schnell wie möglich zu kaufen. Bürgerschaftliches Engagement schließt aber auch politische Überlegungen mit ein. kulturnews hat unter #KulturTrotztCorona auch viele politische Überlegungen von Kulturschaffenden versammelt. Es lohnt sich, da noch mal reinzuschauen.