„Natürlich kann man hier nicht leben“ von Özge Inan
In ihrem Debütroman „Natürlich kann man hier nicht leben“ fühlt Özge Inan dem politischen Klima in der Türkei auf den Zahn.
Trotz herausfordernd vieler Figuren und großer Zeitsprünge gelingt es Özge Inan mit „Natürlich kann man hier nicht leben“, über weite Strecken ein politisches Klima erfahrbar zu machen.
„Natürlich kann man hier nicht leben“ von Özge Inan ist unsere Buchempfehlung der Woche
Nilay ist fast 16, als sie in den Nachrichten Bilder von den Gezi-Protesten sieht: Wasserwerfer, Tränengas, Atemschutzmasken. Und mittendrin Jugendliche, nicht viel älter als sie selbst – doch in Nilays Augen „Superhelden“. Anstatt im sechsten Stock eines Berliner Wohnhauses mit Bruder und Eltern zu versauern, müsste sie in Istanbul sein. Sich der Unterdrückung entgegenstellen. Wie einst ihre Eltern. So abrupt Nilays Zorn entfacht ist, erstickt er auch wieder. Denn Özge Inans Debütroman „Natürlich kann man hier nicht leben“ widmet sich der Geschichte von Hülya und Selim – Nilays Eltern.
Ausgehend vom Militärputsch 1980 schlängelt sich Inan in Zeitsprüngen durch zwei politisch völlig instabile Jahrzehnte der Türkei: Inmitten Turgut Özals Reislamisierungpropaganda, willkürlichen Festnahmen, allgegenwärtiger Feindseligkeit, Verrat und Morden verlieben sich Hülya und Selim an der Universität in Izmir. Doch als Selim ein Verfahren wegen kurdischer Solidaritätsbekundung bevorsteht und Hülya schwanger wird, verlassen sie das Land. Der Titel des Romans referiert demnach gleichermaßen auf das bürokratische Deutschland und die instabile Türkei. Und so bemerkt Hülya erst in Berlin, dass sie den patriarchalen Zwängen längst unterliegt, vor denen sie ihr Leben lang geflohen ist. Inans erschütternder Roman ist geprägt von der Sehnsucht nach Wirkungsmacht und der daraus resultierenden Zerrissenheit. Trotz herausfordernd vieler Figuren und großer Zeitsprüngen gelingt es Inan, über weite Strecken ein politisches Klima erfahrbar zu machen. Schade ist nur, dass Nilay, die biografisch so nah an der Autorin, Journalistin und Twitter-Bekanntheit liegt, nur zwei kurze Passagen gehören.
Mit „Natürlich kann man hier nicht leben“ hat es Özge Inan auf unsere Liste der besten Bücher im September 2023 geschafft.