Outlaws und Legenden: Die Pop-Alben der Woche
Historisch wie noch nie: Der Nachfahr der Outlaw-Legende Davy Crockett, die Punk-Pioniere The Pretenders und die Metal-Szenegröße Boris. Die Alben der Woche.
Die Alben der Woche historisch wie noch nie: Charley Crockett ist ein entfernter Nachfahr des legendären Outlaws Davy Crockett. Über welche und wie viele Ecken der Texaner mit Davy verwandt ist, weiß er womöglich selbst nicht. Aber Adel verpflichtet: Und so spielt er herrlich ausstaffierten Country mit großem Gusto.
The Pretenders ebenso wie Boris sind dagegen Legenden einer ganz anderen Spielart: In ihren jeweiligen Genres – Punk und Metal – sind sie mittlerweile zu Legendenstatus aufgestiegen, lassen sich davon allerdings gar nicht beeindrucken. Auch das Quintett um David Moore Bing & Ruth befindet sich jenseits der Alben der Woche in bester Gesellschaft: Auf ihrem vierten Album befassen sie sich ganz eindringlich mit der italienischen Farsifa-Orgel, die vor ihnen schon Legenden wie Steve Reich ausgiebig in ihren Kompositionen verwendet haben. Die Alben der Woche.
Charley Crockett: Welcome to hard Times
Über wie viele Ecken der Texaner Charley Crockett mit dem Volkshelden Davy Crockett verwandt ist, weiß er vielleicht selbst nicht so genau. Doch eines weiß er: Er ist verwandt mit ihm. Tradition verpflichtet, stolz trägt Crockett Stetson und wildert respektvoll in den weiten Revieren der Countrymusik.
Klimperklavier, jede Menge Pedal Steels, Tremologitarren und viel Oldschool-Hall fürs Gesangsmikro. „Welcome to hard Times“ ist der Schulterblick eines Mannes, der sich in jungen Jahren zwischen New Orleans und Paris viel herumgetrieben hat und bisweilen auch mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist – ein Klischee-Outlaw seiner Branche.
Gesegnet ist Charley Crockett mit einer Stimme, die irgendwo zwischen Lyle Lovett und Garth Brooks zu verorten und damit fast eine Spur zu smart für dreckige Cowboystories ist. Produziert hat das Album Mark Neill, der mit seinem museumsreifen Analog-Equipment schon Bands wie den Black Keys seinen historisierenden Stempel aufgedrückt hat.
Bing & Ruth: Species
Mit „Species“ befindet sich das Brooklyner Ensemble Bing & Ruth in guter Gesellschaft: Der vierte Langspieler der Gruppe um David Moore lotet die Möglichkeit der Farsifa-Orgel aus, die vor ihnen schon Steve Reich, Mike Mills von R.E.M. und Kate Radley von Spiritualized prominent zum Einsatz gebracht haben.
Mit der Ausnahme von Steve Reich, auf dessen minimalistischsten Spuren „Species“ wandelt, dürfte jedoch wohl keiner der hier genannten Musiker*innen das kleine Keyboard aus Italien so minutiös erkundet haben.
Nur Kontrabass und Klarinette verzahnen sich mit seinem warmen Klang, und die Kompositionen selbst scheinen vor dieser alles umfassenden Umarmung zurückzutreten. „Species“ ist die Erkundung einer unendlichen Weite, des Selbstverlusts und der Demut – und es ist ein Wunder, wie ein so kleines Instrument hier auf einmal so groß zu klingen vermag.
The Pretenders: Hate for Sale
So geht Punk: Einmal fett in die Saiten gehauen, und dann einen Moment Ruhe vor dem Sturm. Man hätte es Chrissie Hynde kaum übelgenommen, wenn sie laut hörbar auf den Studioboden gerotzt hätte, bevor der Titeltrack „Hate for Sale“ losbrettert.
Hier geht’s vorwiegend hart zur Sache, wie einst in den 80ern. Die Stimme der Pretenders-Chefin thront lasziv und provokant über allem, das Songwriting bezieht sich mit wenigen Ausnahmen zurück auf die goldene Ära der Band, in der neben Hynde Drummer Martin Chambers und Leadgitarrist James Walbourne die Strippen ziehen.
In den neuen Balladen phrasiert Chrissie Hynde ein wenig wie Amy Winehouse („Lightning Man“) oder Marianne Faithfull („Crying in Public“) – oder hat sie das früher auch schon getan? Hmm, mal die alten LPs rauskramen… Apropos alte LPs: Einen richtigen Kracher wie „Back on the Chain Gang“ oder „Brass in Pocket“ sucht man auf dem neuen Album vergebens, aber das Gesamtbild stimmt.
Boris: NO
Wie viele Gitarrenbands schaffen es, ihren Legendenstatus nach 30 Jahren nicht zu verspielen? Wahrscheinlich nur die, die nicht beinahe jedes Jahr ein Album veröffentlichen. Das Experimentalrock-Trio Boris aus Tokio scheint sich mit seiner teilweise rufschädigenden Hyperproduktivität mittlerweile allerdings gut arrangiert zu haben.
Da wirkt es weniger wie die Verzweiflungstat, die man vermuten würde, wenn etwa Metallica ihr neues Album ganz spontan und losgelöst vom Labelapparat in Eigenregie veröffentlichen. Boris bewegen sich mühelos zwischen Thrash Metal, Crustpunk, Grindcore und Doom Metal und sind dabei kaum je schwerfällig. Jedweden unnötigen Ballast haben sie abgeworfen. Ein Album wie „NO“ würde Newcomer*innen das Adjektiv „vielversprechend“ einbringen, für Wata, Atsuo und Takeshi ist es lediglich ein Highlight unter vielen – aber eben: ein Highlight.