„The Boy who played the Harp“ von Dave: Das neue alte Testament
Für sein drittes Album „The Boy who played the Harp“ schlüpft der Londoner Rapper Dave in die Rolle des biblischen Königs David - der Junge, der die Harfe spielte und damit das Böse vertreibt.
Als Dave 2019 auf seinem Debütalbum „Psychodrama“ in den letzten Zügen seines Outrotracks „Drama“ seinen älteren Bruder Christopher einige Bibelverse übers Gefängnistelefon einsprechen ließ, hätte man noch nicht ahnen können, wie verbunden diese zehn Zeilen sechs Jahre später mit seinem nun dritten Album „The Boy who played the Harp“ sein würden. Denn die Verse, die Christopher dort ruhig und bedächtig einspricht, entstammen Kapitel 16 aus dem Buch Samuels – dem Propheten, der auf Anraten Gottes den jüngsten Sohn Jesses salben und zum König machen soll. Dass dieser Sohn nun David heißt – also dem bürgerlichen Namen Daves entsprechend – ist die eine Sache, doch der junge König hat in der Bibel auch noch eine andere große Rolle: als Schafhirte vertreibt er böse Geister, indem er seine Harfe spielt. Der Junge, der die Harfe spielte – alleine der Titel für das neue Album des Londoner Rappers wirft also schon große Schatten voraus.
David aus dem Hause Jesse
Und es bleibt im Verlauf der zehn Songs von „The Boy who played the Harp“ weiterhin von Vorteil bibelfest zu sein. Durch das gesamte Album hindurch verwebt der als David Orobosa Michael Omoregie geborene 27-Jährige seine eigene Biographie mit der Bibel, genauer: mit dem 16. Kapitel Samuels, das durch den vierten Track „Chapter 16“ auch namentlich in den Fokus gerückt wird. Und das verändert Album Nr. 3 des Londoners gänzlich gegenüber den Erwartungen, die vorher auf das vier Jahre in der Mache gewesene Projekt gesetzt wurden. Denn zur Einordnung: Dave hat sich im letzten Jahrzehnt zu einer der größten Stimmen des britischen Rap entwickelt, seine Alben erreichten allesamt die Höchstplatzierung in den dortigen Charts und Songs wie „Location“ (mit Burna Boy) oder „Sprinter“ (mit Central Cee) sind nicht nur durch ihre Eingängigkeit zu viralen Phänomenen mit Milliarden von Streams avanciert. Es wäre also ein Leichtes gewesen, auf den nächsten großen Hit zu schielen – die Formel dafür stünde ja augenscheinlich bereit.
Doch Dave hat sich seine Fans zum großen Teil nicht durch die Banger. Nein, dass er in seiner Heimat gerne auch mal als „Stimme seiner Generation“ betitelt wird, liegt vor allem an seinen schonungslosen Abarbeitungen von rassistischen, sexistischen oder politischen Missständen, die er auf ellenlangen Parts ins Mikrofon schweißt – quasi das komplette Gegenteil zu den auf Playlistverträglichkeit getrimmten Songs unter drei Minuten, die das Zeitgeschehen in seiner Sparte ansonsten dominieren. Wenn sich aber nun auf den vergangenen beiden Alben in der Tracklist immer ein bis zwei losgelöstere Songs wiedergefunden haben – siehe „Clash“ oder „Location“ – dann hat das auf „The Boy who played the Harp“ ein vorläufiges Ende gefunden. Zehn Songs, von denen sieben die 4 Minuten-Marke mühelos knacken, finden sich hier wieder und allesamt sind sie bemerkenswert unter die Haut gehend und vor allem nicht auf Airplay ausgelegt.

Die geplagte Künstlerseele
Denn Dave lässt auf seinem neuen Album so tief blicken, wie noch nie zuvor. Immer wieder durchbrochen von den biblischen Referenzen, fügt der Südlondoner ein Mosaiksteinchen seiner Vergangenheit nach dem nächsten in die Verses ein und vereint so Geschichten vor 2000 Jahren mit seiner eigenen. Und wer Dave schon vorher durch seine Musik als offenes Buch gesehen hat und den Schmerz seiner eigenen Biographie durch Songs wie „Black“ oder „Heart Attack“ erahnt hat, wird auf der neuen Platte nochmal deutlich stärker mit den Gedanken Daves konfrontiert. Da ist zum Beispiel „My 27th Birthday“, mit 7:51 Minuten der längste Song des Albums. Die „My .. Birthday“-Reihe hat eine lange Tradition in seiner Diskographie und geht bis zurück zu seinem 19. Geburtstag, ist also quasi beinahe ein Längsschnitt durch das künstlerische Schaffen von Dave und findet im neuesten Teil seinen vorläufigen Höhepunkt. „How do I explain that I don’t wanna heal because my identity is pain“ heißt es da, und an anderer Stelle: „I can’t love myself, I’m made from two people that hate each other“. Das sind wehtuende Zeilen, alleine schon beim Zuhören aus der Distanz. Unweigerlich führen die Gedanken zu Musiker:innen wie Chris Cornell, Mac Miller oder Amy Winehouse, die ebenfalls den Schmerz und die Traumata mit Musik bekämpft haben – und am Ende diesen Kampf verloren haben. Da wünscht man sich beinahe eher den Ausgang eines Eminems, die vielleicht bessere Musik gemacht haben, als es ihnen so richtig schlecht ging, doch jetzt zumindest noch am Leben sind und das mehr denn je.
Es sind aber nicht nur seine eigenen Schatten, die Dave auf „The Boy who played the Harp“ angeht. Auf „Fairchild“, dem vorletzten Song des Albums, gibt er über verschiedene Perspektiven mehrere Erzählungen von sexueller Übergriffigkeit und Missbrauch wider, die er von befreundeten Frauen erfahren hat. Festgehaltene Haare, Schlüssel im Gesicht, nicht alleine nach Hause wollen ohne geladenes Handy, Männer mit kurzer Zündschnur und viel Zurückweisung im Leben… es sind schwer zu ertragende Szenen, die aufgemalt werden und gleichzeitig Szenen, die eine jede Frau, die diesen Song hört, vermutlich schon einmal in ähnlicher Form selber erlebt hat.
„Who catcalled or spoke in the bars?
I’m complicit, no better than you
I told stories of—, yeah
Can’t sit on the fence, that’s hardly an option
You’re either part of the solution or part of the problem“
Dass ein jeder Mann in der Verantwortung steht, das ist das Credo dieses Songs – sowohl in der Vergangenheit, wo auch es gut meinende Männer vielleicht als Mitwissende ermöglicht haben, als auch in der Zukunft, wo sexueller Missbrauch gegenüber weiblich gelesenen Personen nur weniger werden kann, wenn Männer sich endlich als Teil der Lösung begreifen, um nicht länger Teil des Problems zu sein.

Who’s the best artist in the world? I’m sayin‘ Tems
Maybe James Blake or Jim, on the day, depends
Es klingt ein wenig nach One-Man-Show, wenn Dave auf diesen zehn Tracks seine Seele ausbreitet, aber der Produzent/Rapper hat tatsächlich eine ganze Reihe an prominenten Unterstützer:innen für seine Vision zusammengesucht. Wie schon auf dem letzten Album hat Enigma James Blake eine tragende Rolle eingenommen, ist maßgeblich am Klang des Albums beteiligt und steuert gar zwei eigene Parts auf „History“ und „Selfish“ bei. Keine Frage, seine Handschrift zieht sich durch den reduziert-sphärischen Klang von „The Boy who played the Harp“ durch. Die nigerianischen Wurzeln Daves, die er auf Album Nr. 1 mit Burna Boy und auf Album Nr. 2 mit Boj und WizKid hat durchbklicken lassen, sind dieses Mal durch Tems zu spüren. Die Sängerin verleiht „Rainfall“ einen der besten Featureparts des gesamten Albums.
Der ebenfalls aus dem Süden Londons stammende Jim Legxacy ist ein weiterer essentieller Teil des Gesamtwerks und revanchiert sich für den Featurepart von Dave auf „black british music“ Mitte des Jahres. Er findet seinen Platz auf „No Weapons“ und untermauert mit seiner unkonventionellen Art Musik zu machen erneut, warum er in den kommenden Jahren nicht mehr aus der UK-Szene wegzudenken sein werden wird. Zuletzt findet sich noch ein Featurepart von Kano wieder – und der bietet vielleicht am meisten Gesprächsstoff unter all den Features dieser Platte. Denn: Nicht nur haben Dave und die englische Grime-Legende trotz gemeinsamer Rollen in der englischen Drama-Serie „Top Boy“ noch nie einen gemeinsamen Song gehabt, die beiden stammen an sich aus völlig unterschiedlichen Generationen der britischen Musikszene. Gehörten vor allem die 200er dem MC aus East Ham, so hat Dave ab Mitte der 2010er den Platz an der Sonne eingenommen. „Chapter 16“, der Song, auf dem die 13 Jahre auseinanderliegenden Rapper zusammentreffen, fungiert also gewissermaßen als eine Art Fackelübergabe – und genau das legen beide Künstler in einem sechsminütigen Konversationsmix aus Spoken Word und Rap während eines gemeinsamen Dinners offen.
Es ist bemerkenswert, wie sehr das gesamte bisherige Schaffen Daves auf diesem Album kulminiert und durch die kleinsten Details ineinandergreift. Die Auswahl der Features, die scheinbar in Nebensätzen verpackten Querreferenzen, die biblischen Anspielungen. Das ist kein Album für einmal Hören und Vergessen, das ist ein Album mit Anspruch auf das beste UK-Rap-Album aller Zeiten. Der König ist gesalbt worden.