Warum das neue Album „GNX“ von Kendrick Lamar seine Ehrenrunde ist
Wenn Kendrick Lamar ein Album veröffentlicht – dazu noch unvermittelt ohne Ankündigung – hält die Musikwelt für einen Moment inne. Warum sein sechstes Album „GNX“ trotz scheinst spontaner Veröffentlichung zum genau richtigen Zeitpunkt kommt.
Eigentlich, so hatte man 2024 über das Gefühl, schien Kendrick Lamars größter Gegner in diesem Jahr Drake zu heißen. Seine Fehde mit dem kanadischen Rapper beherrschte seit März die Schlagzeilen und hat über Monate hinweg Großbrände weit über die HipHop-Szene hinaus gelegt. Doch mit fortlaufendem Jahr und spätestens mit dem Überraschungs-Release seines neuen Albums „GNX“ ist klar, dass der kanadische Rapper nicht länger der größte ausgemachte Gegner ist, sondern lediglich exemplarisch für sein eigentliches Ziel steht. Denn viel mehr hat Kendrick Kurs auf die ganze Szene mitsamt dahinter stehender Musikindustrie genommen und scheint ganz eindeutig einen Plan zu verfolgen, wie er sich weit abseits der gängigen Protokolle platzieren kann.
Erstmal von vorn: Was war los in diesem Jahr und was hat 2024 zum Kendrick-Lamar-Jahr gemacht? Der in den letzten Jahren notorisch zurückgezogene Rapper ist auch nach dem Release seines letzten Albums „Mr. Morale & the big Steppers“ (2022) – das immerhin fünf Jahre nach dem vorigen Album „DAMN.“ erschien – mit Ausnahme von ein, zwei Featureparts wieder abgetaucht. Doch in diesem Jahr ist der 37-Jährige das bestimmende Thema: Im März startet der Beef mit Drake, der sich über Monate hinwegzieht und unter anderem den massiven Nr. 1-Hit „Not like us“ hervorbringt. Der erhält wiederum einige Monate später ein heiß erwartetes Musikvideo, das in seinem Intro einen Ausschnitt eines bis dato unveröffentlichten neuen Songs teasert. Zusammen mit der Superbowl-Ankündigung für den kommenden Februar und der riesigen Pop Out-Show im Herzen Los Angeles‘ sind die Spekulationen um ein neues Kendrick-Lamar-Album gewaltig angeheizt worden.
Das Konzept ist, kein Konzept zu haben
Und dann ist es diesen Freitag tatsächlich so gekommen – mitten aus dem Nichts. Ganz im Stile seiner im Beef geprägten Phrase „Sometimes you gotta pop out and show n*****“ veröffentlicht der Rapper Freitagabend dreißig Minuten (!) nach einem Albumteaser das komplette neue Album „GNX“, ohne auch nur einmal selber Werbung dafür gemacht zu haben. Doch die braucht es nach dem Jahr auch wirklich nicht mehr, die millionenfach gespitzten Ohren sind ihm so oder so gewiss, nachdem sich das Internet in den vergangenen Monaten selber mit Theorien nach Theorien überhäuft hat. Würde weiter gegen Drake geschossen werden? Ist es ein weiteres riesiges Konzeptalbum, das sich wie die Vorgängeralben an komplexen Themenfeldern wie Rassismus, Ängsten oder Moralvorstellungen abarbeitet? Hat er nun Taylor Swift oder doch Playboi Carti als Feature?
Doch das erste Album, das er über das eigens aufgemachte Label pgLang veröffentlicht, erfüllt keine dieser Erwartungen. Stattdessen legt Lamar mit den zwölf Tracks ein Projekt vor, das eher Mixtape- als Albumcharakter hat und ihn mehr aus dem Bauch heraus als je zuvor zeigt. Sind Alben wie „To pimp a Butterfly“ oder „good kid, m.A.A.d city“ großflächig angelegt und durchzogen von verschachtelten Mixturen aus Interludes, Spoken-Word-Einschüben oder Fusionierungen aus Jazz, Funk und HipHop, so ist „GNX“ vor allem eins: Ein straightes Rap-Rap-Album, das ohne große Schnörkel auskommt. Wenn man ein Konzept hinzudichten möchte, wäre es am ehesten wohl die Vereinigung von Westcoast-Elementen, die sich durch das ganze Album ziehen.
Das neue Kendrick Lamar Album „GNX“ ist Westcoast pur
Seien es die Instrumentals, die diesen typischen, leicht ignoranten LA-Bounce ins Zentrum stellen oder die rein aus Westcoastrapper:innen bestehende Featureliste, alles an diesem Album schreit Westcoast. Doch wer jetzt mit einem YG, Vince Staples oder Dr. Dre gerechnet hat, musste sich einmal die Augen wischen: Dody6, HittaJ3 oder Young Threat sind die Namen, die sich neben Kendrick in den Songcredits verbergen. Die Namen, die man bislang nur als absoluter Untergrund-Fan auf dem Schirm gehabt hat, fügen sich aber grandios in den Kontext von „GNX“ ein. Neben dem leicht roughen Anstrich, die sie dem Projekt verleihen, stehen sie exemplarisch dafür, dass Lamar sich in diesem Jahr nicht nur im Austeilen bewiesen hat, sondern in weiterer Instanz vor allem auf eine Westcoast-Rennaisance besinnt hat. Man denke nur zurück an die randvoll mit LA-Natives gefüllte Bühne bei der Pop-Out-Show, die eine Einigkeit in der sonst so durch Gangs geteilte Stadt suggerierte.
Mehrere Tracks legen inhaltlich ganz besonders Zeugnis davon ab, wie ernst es ihm mit der Mission ist. „Heart Pt. 6“ hat in Kendricks Diskographie eine gesonderte Rolle, war ein Song der „Heart“-Reihe doch bislang immer ein sicherer Hinweis darauf, dass bald ein neues Album erscheinen würde. Doch in diesem Fall ist der neueste Part bereits auf dem Album drauf und nimmt statt einer Vorschaltung viel mehr die Rolle des Reminiszierens ein. Sein langjähriges Label Top Dawg Entertainment ist ebenso Thema, wie die darin enthaltene Supergroup Back Hippy, bestehend aus Ab-Soul, ScHoolboy Q, Jay Rock und ihm. Noch mehr Westcoast-Feeling kommt aber in „Reincarnated“ auf, in dem Kendrick nicht nur 2Pacs „Made N*****“ samplet, sondern auch stimm- und flowlich in die Rolle seines Idols schlüpft.
Mit Blick auf Drakes Diss „Taylor Made“, wo der Kanadier 2Pac und Snoop Dogg durch AI hat sprechen lassen, ist „Reincarnated“ genauso wie „Heart Pt. 6“ als Reaktion auf Drakes Disstrack „The Heart Pt. 6“ eine unmissverständliche Reklamation dieser Provokationen, die er gleichwohl, aber ohne es laut aussprechen zu müssen, einfährt. Mit der Zeile „Who put the west back in front of shit? Tell ‚em Kendrick did it“ quittiert er sich im Verlauf des Albums schlussendlich das Gelingen dieses Vorhabens.
Momentaufnahme und Victory Lap
Was also ist „GNX“ jetzt? Statt wie so oft eine Art social commentary durch seine Musik zu liefern, ist das sechste Album des Pulitzer-Preisträgers mehr eine konkrete Zeitaufnahme seines eigenen momentanen Status. Es passt schon gut ins allgemeine Bild der Entstehung des Albums, dass sich Distributoren am nächsten Morgen zu Wort gemeldet und davon berichtet haben, dass sie bis kurz davor nichts von der Veröffentlichung wussten oder Producer von zwei Tage vorher eingereichten Instrumentals erzählen.
„GNX“ ist der vorläufige Höhepunkt seines selbst gewählten Neuanfangs. Es ist die Ehrenrunde nach einem derart dominanten Jahr eines einzelnen Musikers, der mittlerweile nicht nur kreative neue Wege eingeschlagen hat, sondern auch abseits des klassischen Musikindustriegehabes wandeln kann – weil er seinen Sonderstatus im HipHop ausgeweitet hat. Mit eigenem Label im Hintergrund, keinerlei einzugehenden Kompromissen, nicht auf kommerziellen Gründen beruhenden Features und einer scheinbar unerschöpflichen Energie ist Kendrick gerade dabei, seinen Abdruck zu zementieren. Der so große Wellen schlagende Streit mit Drake scheint mit den neuen Entwicklungen lediglich ein Baustein seiner derzeitigen Mission zu sein, die sich viel mehr in Richtung Umkrempelung der Konventionen zu entwickeln scheint. Der im September veröffentlichte Song „Watch the party die“ hat das mit seiner Kritik von Musikindustrie, Materialismus und Prominentenkultur begonnen, seine jüngsten Bewegungen im Zuge des Albumdrops bestätigen den Verlauf.
Und trotz Ehrenrundengefühl scheint es nicht aufzuhören. Enge Vertraute erzählen schon von weiterer folgender Musik, im Teaservideo zum Album ist ein neuer, bislang unveröffentlichter Song und dass „Heart Pt. 6“ auf „GNX“ ist, könnte ebenso ein Hinweis auf ein kommendes Album sein. Mit Blick auf den anstehenden Superbowl und vielversprechenden Hinweisen auf schnell nachfolgende Musik hat der derzeitige Lauf von Kendrick Lamar noch lange kein absehbares Ende.
Schaut euch hier das Musikvideo zu „Squabble up“ an: