Wundertüten und Überraschungen: Die Alben der Woche
Autechre sind überraschend fix zurück, die Dirty Projectors finden in 5 EPs einen neuen Sound und The War On Drugs liefern Gänsehaut. Die Alben der Woche.
Die Alben der Woche greifen in dieser Ausgabe thematisch erstaunlich gut ineinander: Alles dreht sich um Überraschungen, um unerwartet Schönes und schön Unerwartetes. Autechre sind nach einer erstaunlich kurzen Wartezeit schon wieder zurück – nur 12 Tage nach ihrem letzten Album „SIGN“ kommt jetzt schon der Nachfolger „PLUS“, und diesmal sind die Elektronika-Trendsetter erstaunlich frei und ungezwungen unterwegs. Eine Wundertüte sind auch die 5 EPs der Dirty Projectors, die jetzt als Master-Release zusammenkommen. Die Bandbreite des Sounds ist entsprechend groß, doch zwischen akustischem Folk und Future Soul zeichnet sich bereits ab, dass das nächste vollwertige Dirty-Projectors-Album ein Meisterwerk werden könnte.
Ein ganz eigenes Genre hat dagegen Long Tall Jefferson erfunden: Mit elektronischem Beats, akustischer Gitarre und dem Label Cloud Folk stellt sich der Exil-Folkie gegen die Larmoyanz und das ausgestellte Authentizitätsgehubere seiner Songwriter-Kollegen. Gegen einen besorgniserregenden Trend stellen sich auch die beiden Musiker aus dem Iran, Hooshyar Khayam und Bamdad Afshar: Anstatt wie so viele Pop-Crossover-Projekte die Musiktradition nicht-europäischer Länder zum Popgimmick zu verwässern, stellen die beiden ihre elektronischen Elemente ganz in den Dienst einer iranischen Folk-Klassik-Avantgarde. Überraschend unkonventionell gelingt auch das Live-Album der Retrorocker von The War On Drugs: Anstatt nur ein Konzert mitzuschneiden, gibt es hier Aufnahmen eines Archivs, das mehrere Jahrzehnte umfasst.
Und da es alles thematisch so gut passt, gibt es diese Woche auch ganz überraschend eine neue Rubrik, die Neuentdeckung der Woche: Das sind diesmal Steve ’n’ Seagulls, eine Bluegrass-Band aus Finnland – und wie der humorvolle Name bereits klarmacht, gibt es auch hier Überraschendes zu hören. Die Alben der Woche.
Entdeckung der Woche | Steve ’n’ Seagulls: Another Miracle
Steve ’n’ Seagulls haben Humor, das merkt man den finnischen Bluegrass-Exegeten bereits an ihrem Namen an. Stilgerecht wird hier in bester Bluegrass-Manier eine ganz schöne Bandbreite im Banjogewand serviert: Ob Metallicas „Master of Puppets“, Kansas’ „Carry on wayward Son“ oder The Knacks „My Sharona“ – nichts und niemand ist vor den spiellustigen Finnen sicher!
The War On Drugs: Live Drugs
Für das erste Livealbum von The War On Drugs hat Adam Granduciel nicht einfach nur ein Konzert mitgeschnitten, sondern Aufnahmen aus seinem mehrere Jahrzehnte umfassenden Archiv zusammengestellt: Neben dem Warren-Zevon-Cover „Accidently like a Martyr“ gibt es mit „Buenos Aires Beach“ sogar einen Song vom Debüt aus dem Jahr 2008. Höhepunkte sind aber die Beiträge aus seinem Meisterwerk „Lost in the Dream“: Es ist ein Gänsehautmoment, wenn 20 000 Fans die Gitarrenmelodie von „Under the Pressure“ mitsingen, und „An Ocean in between the Waves“ entpuppt sich als perfekter Opener. Aber selbst die Aussöhnung mit dem zu glatten und zu großgestigen Album „A deeper Understanding“ gelingt: „Strangest Thing“ überzeugt hier mehr als in der Studioversion.
Long Tall Jefferson: Cloud Folk
Gelangweilt von all den jungen Männern, die sich am liebsten mit sich selbst beschäftigen, dabei aber letztlich doch nur die überstrapazierten Folk-Schablonen reproduzieren? Simon Borer geht es ähnlich – und das ausgerechnet, nachdem er sich mit zwei Alben als Long Tall Jefferson eine respektable Reputation in ebenjenem Genre erspielt hat. Um der Larmoyanz, dem Authentizitätsgehubere und der plakativen Innerlichkeit zu entkommen, hat sich Borer einfach mal ein neues Genre ausgedacht: Cloud Folk. Klingt zunächst platt und hätte auch peinlich enden können – wenn er denn die Innovationen ausgestellt und sich selbst als großen Sounderneuerer inszeniert hätte.
Doch Borer setzt bei Nuancen der eigenen Kompositionen an und arbeitet etwa Beats, Hall, Autotune und Synthie-Geplucker mit großer Sensibilität ein. Songs wie das Coming-of-Age-Drama „Wild Imagination“ oder „Everything is wrong“ bekommen so eine Tiefenstruktur, die über die doch recht gewöhnlichen Lyrics hinausweist. Und wenn Long Tall Jefferson selbst ein „Christmas Song“ ohne größere Peinlichkeit gelingt, hat er wohl eine zeitgemäße Form gefunden, um das Innere nach außen zu kehren.
Dirty Projectors: 5 EPs
Sein düsteres Meisterwerk „Dirty Projectors“ aus dem Jahr 2017 hat er im Alleingang vollbracht, doch inzwischen ist David Longstreth längst wieder von neuen Mitstreiter*innen umgeben. Quasi als Liebeserklärung an sein neues Ensemble hat der von L.A. aus agierende Songwriter im Laufe des Jahres fünf sehr heterogene EPs rausgebracht: Die Stimme von Gitarristin Maia Friedman wärmt die akustischen Folk-Kompositionen von „Windows open“, Schlagzeugerin Felicia Douglass prägt „Flight Tower“ mit Future Soul, und für „Earth Crisis“ bettet Keyboarderin Kristin Slipp ihre Sopranstimme auf experimentellen Orchestercollagen.
„Super João“ ist dagegen eine Hommage an Bossa-Nova-Erfinder Gilberto João, auf der nur Longstreths zarter Gesang und rhythmische Gitarrenakkorde zu hören sind. Doch uneingeschränkter Höhepunkt ist die fünfte EP, die parallel zum Gesamtzyklus auch einzeln erscheint: Auf „Ring Road“ sind alle vier Stimmen zu hören. Im Verbund greifen sie die innovativen Ansätze der Vorgänger auf, um sie zu einem dynamischen Breitbandsound zu verbinden. Songs wie „No Studying“ und „My Possession“ schüren die Erwartung, dass von der aktuellen Formation der Dirty Projectors schon ganz bald wieder ein Meisterwerk zu erwarten ist.
Autechre: PLUS
Überraschung! Nur 12 Tage nach „SIGN“ haben Autechre unangekündigt gleich den Nachfolger rausgehauen. Dass es sich bei den beiden Platten um Schwesteralben handelt, verrät nicht nur die Verpackung: Einzelne Tracks, darunter „lux 106 mod“, erinnern mit ihren wabernden Klangteppichen an „SIGN“. Zugleich aber ist „PLUS“ schroffer und blecherner, voller hämmernder Drums und metallischem Zischen. Opener „DekDre Scrap B“ erinnert an eine tänzelnde Schrottpresse, während „ecol4“ eine absterbende Ambienteinöde entwirft.
Wie bei „SIGN“ macht auch „PLUS“ den Eindruck, als wollten sich Autechre nach den stundenlangen „NTS Sessions 1-4“ von 2018 etwas freier und unbeschwerter bewegen. Direkt melodisch oder tanzbar werden die Tracks darum noch lange nicht. Doch „X4“, das Herzstück des Albums, kommt dem schon ziemlich nah: Hier kann man sogar bittersüßen, minimalistischen Techno heraushören – der so klingt, als würde er in der Waschmaschine der Nachbarwohnung laufen.
Hoosyhar Khayam & Bamdad Afshar: RAAZ
Wenn ein Release versucht, eine Brücke zu schlagen zwischen traditionell indigenen Klängen und moderner – sprich, westlicher – Musik, ist das allermeistens eine Masche, um diese Musik einem Publikum schmackhaft zu machen, das mit ihr nicht vertraut ist. Für „RAAZ“ macht nun der klassisch ausgebildete Komponist und Pianist Hoosyhar Khayam gemeinsame Sache mit dem Filmmusikkomponisten und Produzenten Bamdad Afshar.
Das erklärte Ziel der beiden aus dem Iran stammenden Musiker ist eben genau das: traditionellen belutschischen Folk, eingespielt von einem Streichquartett, Khayam am Klavier und drei Sänger*innen, mit modernen Klängen und Songstrukturen zu kreuzen. Aber anstatt eine Musiktradition zum Popgimmick zu verwässern, stellen Khayaym und Afshar die Pop-Stilmittel ganz in den Dienst einer belutschischen Folk-Avantgarde. Im Vordergrund steht immer noch der hypnotische Sog des iranischen Folk, jedoch angereichert mit Störgeräuschen, verfremdeten Stimmen und elektronischen Beats – unendlich spannend, vielschichtig, herausfordernd und eingängig.