Zwischen Retro und Dekonstruktion: Die Alben der Woche aus Jazz & Klassik
Gabríel Ólafs dekonstruiert sich selbst, Iris Romen und Simone Kopmajer reisen durch die Zeit und Jerry Granelli lässt Jazz-Klassiker wieder aufleben. Die Jazz-Alben der Woche.
Jazz und Klassik wird ja gerne nachgesagt, dass sie rückwärtsgewandt wären – was aber die Neuveröffentlichungen der Woche beweisen, sechs Alben von Nachwuchsstars wie Gabríel Ólafs oder etablierten Giganten wie Jerry Granelli, ist, dass das nicht immer ein Manko sein muss. Ólafs zum Beispiel wagt in seinen jungen Jahren bereits einen dekonstruktiven Blick auf seine eigenen Kompositionen, während Granelli zwar Blues und Bop spielt – das aber so gekonnt und aufregend, dass die stilistische Orientierung am gestrigen nicht weiter ins Gewicht fällt.
Dazu gesellen sich die herrlichen Retro-Stücke von Iris Romen und Simone Kopmajer, die für ihre neuen Alben weit zurück in der Zeit gereist sind, in die 50er- respektive 60er-Jahre. Menzel Mutzke, bekannt zum einen als Bruder von Popsänger Max, zum anderen als Teil der Anarcho-Brass-Combo Moop Mama, trägt dabei sehr viel von seiner Energie in den coolen Quartett-Jazz seines neuen – und ersten – Solo-Albums. Eine Zeitreise, die sich lohnt!
Gabríel Ólafs: Piano Works
Den Titeltrack seines Debüt „Absent minded“ hat der Pianist aus Island im Alter von 14 Jahren geschrieben. Da wirkt es schon ein Stück weit absurd, dass Gabríel Ólafs mit „Piano Works“ bereits jetzt einen Beitrag zu der dekonstruktiven Label-Serie von One Little Independent beisteuert. Doch mit „Absent minded“ hat er gezeigt, dass er einen Blick für Details hat – in seinen zurückgenommenen Kompositionen wie in seinem unpathetischen Spiel. Inspiration zieht Ólafs seit jeher aus scheinbar nichtigen Momenten, und so verliert er sich auch nicht in Perfektionismus, wenn er seine eigenen Stücke wie „Cyclist Waltz“ oder „Lóa“ neu interpretiert. Gerade, weil er Brüche zulässt wie den stürmischen Wind, der während der Aufnahmen durch die Fenster des Studios in Reykjavik zu hören ist, und diesmal auf jegliche Zusätze seitens der Produktion verzichtet, findet er einmal mehr einen gänzlich neuen Blick auf die Inspirationen, die hinter seinen Stücken stehen.
The Jerry Granelli Trio: Plays the Music of Vince Guaraldi and Mose Allison
Jeder Ami, der sich auch nur ein bisschen für Jazz interessiert, kennt Vince Guaraldi und Mose Allison. Der 1976 verschiedene Guaraldi hat den unvergesslichen Soundtrack zur Zeichentrick-Serie „Peanuts“ geschaffen. Allison, gestorben Ende 2016, hat 1957 die geniale Melodie zu „Parchman Farm“ komponiert (bitte googlen!), und seinen „Young Man Blues“ haben The Who während ihres berühmten „Live At Leeds“-Konzertes zerschreddert. Zwei Pianisten, denen Jerry Granelli lange Jahre ein treuer Begleiter am Drumkit war. Nun hat der Schlagzeuger ein neues Trio mit zwei deutlich jüngeren Musikern: Pianist Jamie Saft und Bassist Brad Jones. Sie widmen sich den bekannten Songs und geben ihnen einen frisch-improvisatorischen Anstrich, durchsetzt von längeren Bass/Drums-Duellen, einem Bossa-Ausflug und ein wenig Soul-Jazz, mit „Christmas Time is here“ als würdigem Finale. Aber vor allem ist dies trocken swingender Blues und Bop, kantig, funky und abenteuerlustig gespielt. Dass Granelli im Dezember 80 wird – geschenkt. Diese Musik kennt kein Alter.
Menzel Mutzke: Spring
Von den Brass-Anarchos des Moop-Mama-Kollektivs braucht wohl jeder mal eine Auszeit. Trompeter Menzel Mutzke legt mit „Spring“ ein so lupenreines Jazzalbum vor, dass man sich fragt: Macht dem Kerl die Partymucke überhaupt Spaß? Egal, das sind zumindest für den Hörer zwei streng voneinander getrennte Welten. Auf „Spring“ präsentiert sich Mutzke als technisch hochvirtuoser Jazztrompeter, der sich am Balladenarchiv der Cool-Ära zäh festgebissen hat. Moment – Mutzke? Genau, der Bruder von Popsänger Max, der an der Seite seines Bruders auf zwei Tracks zeigen darf, dass man ihn ebenso wenig auf den Eurovision Song Contest festnageln darf wie Menzel auf Moop Mama. Mehr cooler Quartett-Jazz geht kaum, woran neben Mutzke dessen Pianist Pablo Held erheblichen Anteil hat.
Simone Kopmajer: My Wonderland
Gibt es eigentlich die weibliche Form des Crooners? Als Terminus offenbar nicht, obwohl er jemanden wie Simone Kopmajer bestens charakterisieren könnte. Die Österreicherin fühlt sich stimmlich am wohlsten, wenn sie verhaucht und vernuschelt hinter dem Beat singt. Dazu passt am ehesten das Songbook der Bossa- und Westcoastklassiker, die leicht schwülstige Atmosphäre von Antonio Carlos Jobim oder Burt Bacharach. „My Wonderland“ versammelt neben deren Schlafzimmerblick-Balladen auch ein bisschen Ellington und Santana sowie Eigenkompositionen. Bandleader und Saxofonist Terry Myers legt in seinen Arrangements den Fokus eindeutig auf die ewig erotische Zwiesprache zwischen Horn und Gesang. Eingespielt wurden die Aufnahmen in den Wavegarden Studios mit einer extradicken Portion Hall, die unverkennbar in die Sixties weist – jene Dekade, in der der Jazz so unverhohlen auf Kuschelkurs mit dem Pop gegangen ist wie nie zuvor.
Iris Romen: Late Bloomer
Wer keine Jukebox in seinem Wohnzimmer stehen hat, aber gern lange Koteletten zu Schmierfrisur respektive Pferdeschwanz und Pettycoat trägt, bekommt mit Iris Romens Album zumindest die sanften Seiten der Fifties frei Haus – charmant, sexy, witzig, authentisch. Die Niederländerin hat sich in Berlin in den zurückliegenden Jahren zur vielbeschäftigten Sängerin zwischen Bosshoss, Ben Becker und Bert Brecht hochgearbeitet – was nicht zuletzt auch daran liegen mag, dass sie neben ihren Stimmbändern auch noch Kontrabass, Gitarre und E-Piano bedient. Soul, Country, Doo-Wop, Blues gibt’s von Iris Romen mit Sahnehäubchen und Zuckerguss. Dass das alles nicht nur niedlich sein soll, unterstreicht Romen mit „Filmriss“, der einzigen deutschsprachigen Nummer der CD.